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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vor mir, wie er mit seiner altersfleckigen Hand die Figuren zog. ›Wie machst du das bloß‹, seufzte er mit gespielter Resignation, wenn er sah, daß die Niederlage nicht mehr abzuwenden war. Einmal, als ich die eigene Niederlage kommen sah und den König liegend kapitulieren ließ, griff er schnell und heftig nach der Figur und richtete sie auf. Er war nicht der Mann, der so etwas erklären konnte. Aber sein Gesicht sah auf einmal weiß und kantig aus, wie in Marmor geschnitten, und da begriff ich, daß sich hinter seiner Müdigkeit und seinem Überdruß ein unbeugsamer Stolz verbarg. Auf seine schweigsame, erschöpfte Art hatte er mich gelehrt, wie es ist, gewinnen zu wollen, ohne daß dieser Wille die Bereitschaft zur Grausamkeit einschließt. Mehr als zwanzig Jahre waren vergangen, daß er mir im Krankenzimmer zum letzten Mal die Hand gegeben und sie fester gedrückt hatte als sonst, als habe er gespürt, daß er in der Nacht sterben würde.
    Noch nie hatte ich ihn, dem ich wortlos – auch innerlich wortlos – übelgenommen hatte, nie dagewesen zu sein, so vermißt wie in diesem Augenblick, als ich neben meiner Tochter saß, die angespannt auf das Versagen der anderen hoffte. Wie gibt man Erfahrungen an sein Kind weiter? Was macht man, wenn man eine Grausamkeit an ihm entdeckt, die einen erschreckt?
    Zwei der fünf Kandidaten, die am Vormittag gespielt hatten, waren nicht zum Mittagessen erschienen. Die drei anderen beugten sich scheu und wortlos über ihre Teller. Sie mußten gemerkt haben, daß ihnen kein glanzvolles Spiel gelungen war, und nun mußten sie die Blicke der anderen aushalten, die es auch gehört hatten. Ich sah vom einen zum anderen. Kinder, die wie Erwachsene gespielt hatten und nun wie Kinder ihre Suppe löffelten. Mein Gott, dachte ich, wie grausam.
    Die Eltern wußten auch, daß es nicht gereicht hatte. Eine Mutter fuhr der Tochter übers Haar, ein Vater legte dem Sohn die Hand auf die Schulter. Und dann, ganz plötzlich, wurde mir klar, daß es immer grausam ist, wenn die Blicke der anderen auf uns ruhen; selbst wenn es wohlwollende Blicke sind. Sie machen Darsteller aus uns. Wir dürfen nicht mehr bei uns selbst sein, wir müssen für die anderen da sein, die uns von uns selbst wegführen. Und das Schlimmste: Wir müssen vorgeben, ein ganz Bestimmter zu sein. Die anderen erwarten das. Dabei sind wir es vielleicht gar nicht. Vielleicht läge uns gerade daran, kein Bestimmter zu sein und uns in einer wohltuenden Vagheit zu verstecken.«
    Ich dachte an Pauls fassungslosen Blick über dem Mundschutz, der mich in mir selbst hatte schrumpfen lassen. Und an das Gesicht der Schwester, die den Blick niedergeschlagen hatte. Daß sie es nicht ertragen hatte, mich im Augenblick der Schwäche anzusehen, war noch schlimmer gewesen als Pauls Entsetzen.
    »Der Nachmittag begann mit einer Überraschung. Ein Mädchen mit dem märchenhaften Namen Solvejg betrat die Bühne. Ihr sommersprossiges Gesicht schien kein Lächeln zu kennen. Das Kleid hing an ihr herunter wie ein Sack, und die Arme waren zum Erbarmen dünn. Unwillkürlich erwartete ich einen kraftlosen Strich und einen dünnen Klang, der uns peinlich berühren würde.
    Und dann diese Explosion! Ein russischer Komponist, ich kannte den Namen nicht. Ein Feuerwerk mit atemberaubenden Lagenwechseln, Glissandi und Doppelgriffen. Das Haar des Mädchens, das ungewaschen und strähnig ausgesehen hatte, flog plötzlich, die Augen sprühten, und der schmächtige Körper folgte geschmeidig der musikalischen Spannung. Es herrschte vollkommene Stille. Der Beifall übertraf alles, was wir vormittags gehört hatten. Jedem war klar: Der Wettbewerb hatte eben erst begonnen.
    Lea hatte regungslos dagesessen. Ich hatte sie nicht atmen hören. Ich sah Marie an. Ja, schien ihr Blick zu sagen, daran wird sie gemessen werden. Lea hatte die Augen geschlossen. Langsam rieb sie die Daumen aneinander. Ich spürte den Impuls, ihr übers Haar zu fahren und den Arm um die Schulter zu legen. Wann hatte ich damit begonnen, solche Impulse zu unterdrücken? Wann eigentlich hatte ich sie das letzte Mal umarmt, meine Tochter?
    Noch zwei Kandidaten, bis sie an der Reihe war. Das Mädchen stolperte über den Saum des Kleids, der Junge wischte sich stets von neuem die Hand an der Hose ab, auf dem bleichen Gesicht sah man die Angst, die feuchten Finger könnten auf den Saiten ausgleiten. Lea entspannte sich. Marie schlug die Beine übereinander. Als der Junge zu spielen begann, ging ich

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