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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sah.
    ›Sie möchten nicht, daß Lea gewinnt‹, sagte sie.
    Ich fuhr zusammen, als hätte man mich beim Stehlen ertappt.
    ›Bin ich so leicht zu erraten?‹
    ›Nur wenn es um Lea geht‹, sagte sie lächelnd.
    Ich hätte sie gerne gefragt, was sie sich wünschte und was sie über Leas Chancen dachte. Überhaupt hätte ich sie vieles fragen mögen. Sie muß es mir angesehen haben, denn sie hob die Augenbrauen.
    ›Also dann bis morgen‹, sagte ich und ging.
    Vom Fenster meines Zimmers aus blickte ich über das nächtliche, verschneite St. Moritz. Aus Leas Zimmer neben mir kam noch Licht. Ich wiederholte die Sätze, die ich zu Cécile über Verantwortung gesagt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was richtig war. Es begann bereits zu dämmern, als ich endlich einschlief.«
15
    ALS WIR AUF GENF ZUFUHREN , setzte unter dunklen Wolken die frühe Dämmerung ein. Van Vliet war eingeschlafen, den Kopf mir zugewandt. Er roch nach Alkohol und Tabak. Während er über Leas Auftritt in St. Moritz erzählte, hatte er den Flachmann hervorgeholt und eine Zigarette an der Glut der vorherigen angezündet. In meinem eigenen Auto darf niemand rauchen, ich vertrage das nicht. Und besonders schlimm ist es, wenn ich wenig geschlafen habe. Ich bekam kaum mehr Luft und roch bereits den Rauch in den Kleidern. Doch jetzt machte es nichts. Irgendwie machte es nichts.
    Ich sah ihn an. Er hatte sich heute morgen nicht rasiert, und er trug dasselbe Hemd, an dessen Kragen er gestern gerissen hatte, als er auf die Touristen schimpfte, die Van Goghs Zimmer im Hospiz sehen wollten. Ein ungebügeltes, tausendmal gewaschenes Hemd von undefinierbarer Farbe, die drei obersten Knöpfe offen. Eine zerknitterte schwarze Jacke. Er atmete durch Mund und Nase gleichzeitig, und ein leises Rasseln begleitete die Atemzüge, die ihm Mühe zu machen schienen.
    Mit geschlossenen Augen sah er schutzbedürftig aus. Gar nicht wie einer, der hatte Geldfälscher werden wollen und der auf der Bundesterrasse einen Schachgegner vernichtet hatte, weil der es wagte, ihn zu fixieren. Eher schon wie einer, der Ruth Adamek gefürchtet hatte, obwohl er das nie zugeben würde. Und vor allem wie einer, der nicht die Verantwortung für ein Kind hatte übernehmen wollen, weil er das Gefühl hatte, die Verantwortung nicht einmal für sich selbst übernehmen zu können. Und wie einer, den die Worte von Dr. Meridjen wie Peitschenhiebe getroffen hatten, so daß er von ihm nur noch als dem Maghrebiner sprechen konnte.
    Ich versuchte, mir Tom Courtenay schlafend vorzustellen, und fragte mich, wie es wäre, wenn er mit einer Tochter zusammenwohnte, die von einer bedrohlichen Leidenschaft für das Violinspiel aufgezehrt wurde. Van Vliet waren darüber alle Gewißheiten abhanden gekommen. »Selbst im Labor schien ich mich immer weniger auszukennen«, hatte er gesagt.
    Die Kandidaten im Wettbewerb hatten in alphabetischer Reihenfolge gespielt. Das bedeutete, daß Lea als Vorletzte drankam.
    »Sie war bleich und ihr Lächeln brüchig, als sie sich mit uns an den Frühstückstisch setzte. Niemand wurde gezwungen, sich die Konkurrenten anzuhören, aber Lea winkte unwirsch ab, als ich vorschlug, statt dessen einen Spaziergang zu machen. Von mir ließ sie sich an diesem Tag nichts sagen, und einmal ertappte ich mich bei der Vorstellung, das Hotel ohne Erklärung zu verlassen, nach Kloten zu fahren und in die nächstbeste Maschine zu steigen. In Wirklichkeit saß ich jede Minute neben ihr, wenn die Lichter über den Zuhörern ausgegangen waren. Wir wechselten kein einziges Wort und sahen uns auch nicht an, und doch wußte ich in jeder Sekunde, was Lea dachte. Ich hörte es an ihrem Atem und spürte es an der Art und Weise, wie sie dasaß und sich auf dem Stuhl bewegte. Es waren Stunden der Qual und zugleich Stunden, in denen ich glücklich über die Nähe war, die durch dieses wortlose Entziffern ihres Inneren geschaffen wurde.
    Das Spiel der beiden ersten Kandidaten war steif und nichtssagend. Ich spürte, wie Lea sich entspannte. Ich war froh darüber, es zu spüren. Doch im Nachhall erschrak ich über die Grausamkeit, die sich hinter dieser Entspannung verbarg. Von nun an waren es widerstreitende Empfindungen dieser Art, die mich ausfüllten. Die Schwächen der anderen bedeuteten Hoffnung, und die Erleichterung, die in Leas tiefen Atemzügen hörbar wurde, bedeutete Grausamkeit.
    Wie war es, wenn ich am Brett gegen jemanden spielte, bei einer Gelegenheit, wo es darauf ankam? Ich sah meinen Vater

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