Lea
noch ein wenig, wurde voller. Jedesmal, wenn sie von ihm kam, schien sie noch ein bißchen mehr von der höfischen Aura mitzubringen, von dem Schloßglanz, der sich in meinen Gedanken mittlerweile über die ganze Stadt Neuchâtel gelegt hatte. Es war, als setzte sie eine Art Patina an, einen Edelrost, den das gemeinsame Geigenspiel mit Lévy hervorbrachte. Ich haßte sie, diese eingebildete, stinkende, nach Geld stinkende Patina, ich haßte die unüberhörbaren Fortschritte, die Lea machte, ich haßte es, wenn sie ›Also, ich gehe dann‹ sagte, in einem Ton, in dem ich schon das Französisch hörte, das sie mit ihm gleich sprechen würde, ich haßte ihr Bahnabonnement, ihren kleinen, abgegriffenen Fahrplan und – ja, ich haßte Lévy, David Lévy, den sie Davíd nannte. Einmal, als ich mich nicht beherrschen konnte und in ihren Sachen stöberte, fand ich ein Notizbuch mit einer Seite, auf der sie immer wieder geschrieben hatte: LEAH LÉVY .
Trotzdem: Es geschah nicht, was ich befürchtet hatte. Ich hätte es bemerkt. Ich weiß nicht, woran, aber ich hätte es bemerkt. Statt dessen stellte sich an ihr etwas ein, das mich beruhigte und, ja, geradezu froh machte: eine leise, ganz leise Gereiztheit, wie man sie empfindet, wenn sich eine Hoffnung und Erwartung, auf deren Erfüllung man nun schon so lange und mit so viel Geduld gewartet hat, immer noch nicht erfüllt, obgleich man alles getan hat, um mögliche und unmögliche Hindernisse beiseite zu räumen.
›Heute fahre ich nicht‹, sagte sie eines Tages, und es lag diese Gereiztheit in der Stimme.
Ich schäme mich, es zu sagen, und ich schämte mich auch vor mir selbst, als ich danach ins Kino ging, um es zu feiern.
Zwei Tage später fuhr sie wieder und sagte Bonsoir , als sie nach Hause kam.
Ich kam mir plump vor, und zwar nicht wie ein schwerfälliger Berner, sondern – es war abstrus, vollständig abstrus – wie ein plumper, grobschlächtiger Holländer, der irrtümlich und unverdient eine leuchtende Tochter aus der Welt der glitzernden französischen Schlösser hatte, ein Versehen, ein pures Versehen, das durch das Auftauchen von Lévy aufgedeckt worden war. Plump und langsam schleppte ich mich durch die Räume der Universität und machte einen Fehler nach dem anderen. Insgeheim sprach ich meinen Vornamen französisch aus, und für eine Weile ließ ich bei der Unterschrift das j im Vornamen weg, so daß er als französischer Name durchgehen mochte.
Bis es in mir umschlug. Ich begann mich in den hölzernen, grobschlächtigen Holländer, den Lévys Glanz, Lévys eingebildeter Glanz, in mir hatte entstehen lassen wie eine sehr reale Gegenfiktion, zu verbeißen. Meine Eltern mit ihrer kuriosen, aber gänzlich folgenlosen Anhänglichkeit an Holland haben mir einen zweiten Vornamen gegeben: Gerrit. Martijn Gerrit van Vliet heiße ich mit vollem Namen. Ich habe ihn stets verabscheut, diesen spitzen, zerklüfteten Namen, ein Name wie eine sirrende Säge, die sich knirschend durch aufplatzenden Lack frißt. Doch nun holte ich ihn hervor. Ich unterschrieb damit und erntete erstaunte, fragende Blicke, denen ich mit drohendem Stirnrunzeln begegnete, so daß nie jemand wirklich nachfragte.
Ich zog mich so plump an, wie es nur ging, ausgebeulte Hosen, zerknautschte Jacken, zerknitterte Hemden, abgetragene Schuhe. Und damit nicht genug. Ich fuhr nach Amsterdam und spielte den Holländer mit ein paar kläglichen Brocken des Niederländischen, mit denen ich mich mehr als einmal lächerlich machte. Schlaflos lag ich dort auf dem Bett, Lea und auch mir selbst fremd geworden. Ich dachte an meinen Urgroßvater, den betrügerischen Banker, der in dieser Stadt Leute scharenweise in den Ruin getrieben hatte. Und ich dachte daran, wie ich hatte Geldfälscher werden wollen. Oft stand ich auf den Brücken der Grachten und sah aufs Wasser hinunter. Aber es hatte keinen Sinn, sie waren viel zu niedrig.
Lea sagte nichts dazu, obwohl ich insgeheim hoffte, sie verstünde die Zeichen zu deuten. Denn was hatte die ganze Maskerade für einen Sinn, wenn gerade sie sie nicht als das erkannte, was sie war: der Versuch, meines Schmerzes durch Selbstzerstörung Herr zu werden? Was nützte es, wenn sie nicht verstand, daß ich in meiner Hilflosigkeit auf die eingebildete Zurücksetzung mit selbstzerstörerischem Tun antworten mußte – weil ein seelischer Schmerz, an dem man mitwirkt, leichter zu ertragen ist als einer, der einem nur zustößt?
Es gab für sie in jener Zeit eben nur Lévy.
Weitere Kostenlose Bücher