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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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kamen Fehler an den Tag: falsche Kalkulationen, falsche Einschätzungen, falsche Fragestellungen. Die Verträge zweier Mitarbeiter mußten verlängert werden. Ich verweigerte die Unterschrift. Als ich entdeckte, daß Ruth Adamek an meiner Stelle unterschrieben hatte, rief ich bei der Personalstelle an und machte die Sache rückgängig. Ich zitierte Ruth zu mir. Ich blies ihr den Rauch ins Gesicht. Sie wollte protestieren, aber das war erst der Anfang. ›Nicht jetzt!‹ sagte ich, als jemand hereinkam. Ich muß es so schneidend gesagt haben, daß sie erbleichte. Ich zog einen Stapel Papiere zu mir, den ich in der Nacht durchgearbeitet hatte. Sie erkannte den Stapel und schnappte nach Luft. Ich rechnete ihr die falschen Entscheidungen vor, eine nach der anderen. Sie wollte es auf mich schieben, auf mein ständiges Fehlen. Ich schnitt ihr das Wort ab. Ich sah sie an und spürte ihren Atem in meinem Nacken, als sie damals ›Unterschreiben!‹ geschnaubt hatte. Ich sah ihr Grinsen, nachdem ich den Antrag zerrissen hatte. Ich las ihr die Fehlkalkulationen vor, die falschen Prämissen, die falschen Deutungen der Daten. Ich las sie ihr vor, eine nach der anderen. Ich wiederholte sie. Ich skandierte sie. Ich vernichtete Ruth Adamek, die es mir nie verziehen hatte, daß ich auf ihren Minirock nicht hereingefallen war. Ein eisiger Wind fegte durch die Gänge. Ich genoß ihn.
    Und damit nicht genug. Ich landete bei der Industrie einen Coup und akquirierte Forschungsgelder in zweistelliger Millionenhöhe. Als ich die Vorstandssitzung verließ, mußte ich mich im Aufzug festhalten. Meine Nonchalance hatte gestochen, ich hatte es an den Gesichtern gesehen, und sie hatte die Summe immer weiter in die Höhe getrieben. Es war kein Betrug, aber das Ganze war riskant, milde ausgedrückt.
    Ich wurde zum Rektor bestellt. Er gratulierte mir zu der Akquisition. ›Ein Kinderspiel‹, sagte ich, ›und ohne jede Bedeutung. Meine Forschung, meine ich. Nützt niemandem. Könnte man genausogut lassen.‹ Er überwand den Schock schnell, das muß ich ihm lassen, und brach in lautes Lachen aus. ›Ich wußte gar nicht, daß Sie ein solcher Spaßvogel sind!‹ Ich machte ein todernstes Gesicht. ›Kein Spaß, mein voller Ernst.‹ Und dann versuchte ich etwas, das ich einmal bei einem Komiker gesehen hatte: Ich brach unvermittelt in brüllendes Lachen aus, so daß die todernste Miene nun wie der kunstvolle Auftakt zu diesem Lachen erscheinen mußte, ich platzte einfach heraus, und da fing auch der Rektor an zu lachen, ich steigerte mich und grölte, bis auch er grölte, das Grölen klang, als müßte es in der ganzen Universität zu hören sein, ich steigerte mich noch einmal, denn nun fand ich dieses Grölen wirklich zum Totlachen, ich lachte Tränen, und am Schluß holte auch der Rektor das Taschentuch hervor. ›Van Vliet‹, sagte er, ›Sie sind ein As, ich hab’s immer gewußt, alle Holländer sind Asse.‹ Das war so dämlich, so gottverdammt blöd, daß ich wieder losprustete, und nun ging unser Grölen in die zweite Runde. Zum Abschied erkundigte er sich nach Mademoiselle Mozart. ›Bach‹, sagte ich, ›Johann Sebastian Bach.‹ ›Sag’ ich doch‹, sagte er und schlug mir auf die Schulter.
    Wie ganz anders sollte unsere nächste Begegnung verlaufen!«
21
    AM 5. JANUAR wurde Lea zwanzig. Drei Tage später eröffnete ihr Lévy, daß er bald heiraten und mit seiner Frau für einige Zeit verreisen werde. Das war der Beginn der Katastrophe.
    Es hatte Vorboten gegeben. Sonst hatte er mit Lea auch zwischen Weihnachten und Neujahr gearbeitet, und nach Neujahr ging es gleich weiter. Dieses Mal gab es zwischen den Jahren eine Pause. Van Vliet fragte nicht, er nahm es nur dankbar zur Kenntnis. Es gab wieder einmal Weihnachtsschmuck in der Wohnung, und Lea half. Aber sie war nicht bei der Sache. Und was den Vater alarmierte: Sie spielte nicht, keinen Ton. Schlief bis mittags, saß herum. Er schenkte ihr das Buch über die Cremoneser Schule des Geigenbaus, das er auf der Reise nach Mailand gekauft hatte. Ein paar Tage lag es ungeöffnet auf dem Tisch, dann fing sie an zu blättern. Zuerst las sie alles über Nicola Amati, dessen Hände ihre Geige geschaffen hatten. Die Farbe kehrte ins Gesicht zurück. Van Vliet spürte: Sie dachte fortwährend an Lévy, Nicola Amati war nur der Stellvertreter. »Er war es, der die spitze Gambenform zur heutigen Form verändert hat«, sagte sie. Der Vater setzte sich neben sie an den Küchentisch, und zusammen

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