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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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lasen sie alles über die Maße eines Geigenkorpus, den Lack, die Holzstärke der einzelnen Teile, die Form der f -Löcher und der Schnecke. Das Instrument, das drüben im Musikzimmer lag, war ein Großes Amati-Modell , sie hatte diese Bezeichnung nicht gekannt. Auch hatte sie nicht gewußt, daß man solche Geigen wegen ihres Klangs Mozart-Geigen nannte. Ihre Wangen begannen zu glühen, ein paar rote Flecke erschienen am Hals. Mit jedem winzigen Detail rückte Neuchâtel näher. Es tat dem Vater weh, aber er blieb sitzen, und dann gingen sie zusammen den Stammbaum der Amati-Dynastie durch.
    GUARNERI DEL GESÙ . Dort am Küchentisch, in den letzten Tagen des Jahres, ahnte Van Vliet nicht, was für ein Unglück hinter diesem Namen auf sie wartete. Was für ein Verhängnis er für sie beide bedeuten sollte. Zunächst war es einfach der Name, der Lea fesselte und ihre Aufmerksamkeit von Amati und Lévy weglenkte. Plötzlich erschien in ihren Augen und ihrer Stimme eine frische, unbefangene Neugierde, die ohne Seitenblick auf Neuchâtel war. Auch diesen Stammbaum lernten sie kennen. Andrea, der Großvater; Giuseppe Giovanni, der später den Beinamen filius Andreae erhielt; und eben sein Sohn Bartolomeo Giuseppe, der sich auf seinen Geigenzetteln als Joseph Guarnerius bezeichnete. Er fügte ein Kreuz hinzu sowie die Buchstaben IHS, die IN HOC SIGNO oder IESUS HOMINUM SALVATOR bedeuten konnten. Aus diesem Grund wurde er später Guarneri del Gesù genannt. Dieser Beiname gefiel Lea, er gefiel ihr so sehr, daß Van Vliet an das Kreuz dachte, das ihr Marie auf die Stirn zu zeichnen pflegte. Einen kurzen, gefährlichen Moment lang war er versucht, sie danach zu fragen. Zum Glück hatte Lea gerade etwas gelesen, das sie in freudige Aufregung versetzte.
    »Guck mal, Papa, auch Niccolò hatte eine Guarneri del Gesù! Sie heißt Il Cannone . Er hat sie der Stadt Genua vermacht, man kann sie dort im Rathaus besichtigen. Können wir da nicht hinfahren?«
    Noch am selben Tag kaufte Van Vliet die Flugscheine und buchte das Hotel. Sie würden Leas Geburtstag in Genua verbringen, vor der Vitrine mit Paganinis Geige. Was könnte besser passen! Es war das perfekte Geschenk zu diesem Geburtstag. Und was viel wichtiger war: Es war seit vielen Jahren wieder eine Reise, die er mit seiner Tochter, ganz allein mit ihr, machen würde. Die letzte mußte abgebrochen werden, weil Lea zurück zu Marie wollte. Diese, schwor sich der Vater, würde nicht abgebrochen, notfalls würde Leas Telefon unterwegs verlorengehen. Er freute sich, er freute sich so sehr, daß er Lea einen luxuriösen Koffer kaufte, den teuersten, den sie hatten, und auch einen riesigen Bildband über Genua und einen Stadtplan brachte er mit. Das neue Jahr in Genua beginnen, zusammen mit seiner Tochter: Eigentlich mußte es dann auch sonst ein Jahr werden, in dem sich die Dinge zum Guten wenden würden. So zuversichtlich war er schon lange nicht mehr gewesen.
    Doch mit einemmal wollte Lea nicht mehr. Sie wollte lieber diese Ausstellung in Neuchâtel sehen, von der sie in der Zeitung gelesen hatte. Van Vliet blickte auf den neuen Koffer. Das Ganze war wie ein Traum, der im Morgenlicht vergeht. »Ich glaube, ich war nie zuvor so enttäuscht«, sagte er. »Es war, als wäre ich gegen unsichtbares Panzerglas gelaufen, das ganze Gesicht tat mir weh.« Er stornierte das Hotel und zerriß die Flugscheine. An Leas Geburtstag ging er früh ins Institut und blieb bis tief in die Nacht vor dem Computer. Das erste Mal dachte er daran, allein in eine andere Wohnung zu ziehen.
    Drei Tage später kam sie ohne Geige von Neuchâtel zurück. Sie war vom Regen überrascht worden, das Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht. Aber das war es nicht, was ihn erschauern ließ. Es war der Blick.
    »Ein irrer Blick. Ja, man kann es nicht anders sagen: irre. Ein Blick, der von einer schrecklichen inneren Unordnung zeugte. Davon, daß sie das seelische Gleichgewicht gänzlich verloren hatte und auf einer Flutwelle von Verletztheit dahintrieb. Der schlimmste Moment war, als dieser Blick mich streifte. ›Ach, du bist auch da‹, schien er zu sagen, ›wieso eigentlich, helfen kannst du mir dabei nicht, du doch nicht, du bist der letzte, der es kann.‹ Sie kroch in den nassen Sachen unter die Bettdecke. Nicht einmal die Schuhe zog sie aus. Als ich die Tür einen Spaltbreit öffnete, schluchzte sie ins Kissen.«
    Van Vliet setzte sich an den Küchentisch und wartete. Versuchte sich vorzubereiten, seine Gefühle

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