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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Frühstück erzählt. Er hatte an meine Zimmertür geklopft, nicht an die Verbindungstür. Er mußte lange klopfen, es war schon fast acht gewesen, als ich mit Versen von Walt Whitman im Sinn eingeschlafen war. Die Frühstückszeit war vorbei, aber wir überredeten die Bedienung. Und nun saßen wir in unseren Mänteln am See, bereit zu fahren und doch auch nicht bereit. Er wollte nicht in seine zwei Zimmer voller Stille, und ich hatte Angst vor Bern. Wie würde es sein? Würden wir uns vor meinem Haus einfach verabschieden, und er führe zu sich, auf Berns Straßen, auf denen keine donnernden Lastwagen heranrasten? Was würde ich mit seinem Unglück machen? Was würde er mit dem Wissen machen, daß ich es kannte? Eine Intimität dieser Größe, die plötzlich durchtrennt wurde: War das nicht etwas Schreckliches, Barbarisches? Etwas schlechterdings Unmögliches? Doch was sonst?
    Und so blieben wir sitzen, frierend, die Schwäne betrachtend, und Van Vliet erzählte, wie er sich aufgerichtet hatte.
    »Ich richtete mich nach dieser langen Zeit auf. Dabei spürte ich, wie klein ich mich von Ruth Adamek hatte machen lassen. Zuerst saß ich mit der Reisetasche im Büro und betrachtete meinen Schreibtisch, der immer leerer wurde: Weil ich so selten da war, nahmen sie mir die Sachen einfach weg und erledigten sie selbst. Ich hatte keine Ahnung mehr, was in meinem Institut vor sich ging.« Er schnippte die Kippe in den See. »Als ich mir das dort oben, mit Blick auf die Berge, klarmachte, ging es mir gar nicht so schlecht. Jedenfalls redete ich es mir ein. Geld fälschen, Freiheit, Unbekümmertheit, die Dinge einfach sausen lassen: Warum nicht! Doch die Wahrheit war es nicht. In Wirklichkeit spürte ich, daß meine Würde in Gefahr war. Großes Wort, pathetisches Wort, hätte nie gedacht, daß ich es eines Tages bemühen müßte. War aber das treffende Wort. Vielleicht auch wegen des Abends in Genf, ich weiß nicht. Der leere Schreibtisch war nicht mehr lustig. Ich ging.«
    Er fuhr nicht ins Oberland. Er nahm den Zug nach Mailand.
    »Passende Kleider für die Oper hatte ich nicht mit. Besitze ich auch gar nicht. Doch am zweiten Abend stand da jemand und bot mir eine Karte für die Scala an. Idomeneo . Ich ließ mich übers Ohr hauen, mehr als das. Und so saß ich zwei Tage nach Leas Konzert in abgerissener Kleidung in der Mailänder Oper und betrachtete die Geiger im Orchestergraben. Ich stellte mir Lea dort vor. Und irgendwie war das der Funke: Sie würde am Konservatorium Musik studieren, sie war jetzt meine erwachsene Tochter, die mit Konzerten und Platten Geld verdiente, worauf es nun ankam, war, sie loszulassen, irgendwann wäre auch Lévy vorbei, eine eigene Wohnung, eine eigene Verantwortung, Freiheit, Freiheit für uns beide. Danach war Idomeneo meine Oper, ich hatte keine Ahnung, was darin geschah und wie sie klang, aber es war eine wunderbare Oper, die Oper meiner Befreiung aus der Verantwortung, die mir Cécile aufgebürdet hatte und an der ich fast zerbrochen war.
    Das Problem war nur: Ich glaubte mir kein Wort. Doch das wollte ich nicht wahrhaben, und so arbeitete ich an diesem Selbstbetrug mit all der neuen Energie, die ich mir einredete.
    Doch erst gönnte ich mir ein paar Tage in oberitalienischen Städten und am Gardasee. Ein Vater, der endlich die richtige Einstellung zu seiner erwachsenen Tochter gefunden hatte. Ein Mann, der am Beginn eines neuen Lebensabschnitts stand, voll von neuer Freiheit. Blicke von Frauen, auch von jungen. Eine neue Reisetasche.
    Und dann jenes Buch über die Geigenbaukunst in Cremona. Amati, Stradivari, die Guarneris. Ich weiß noch: Ganz wohl war mir nicht, als ich an der Kasse stand. Als käme die Brandung einer gefährlichen, tückischen Zukunft auf mich zu. Als führte mir das Buch etwas vor Augen, einen Strudel, in dem ich verschwinden würde. Aber ich wollte von diesem Gefühl nichts wissen. Ich würde das Buch Lea mitbringen: eine Geste der Versöhnung, eine großzügige Geste, die durch Amati hindurch auch Lévy einschloß.
    Nach der Rückkehr nahm ich meinen Beruf wieder auf, sozusagen. Ich war früher als die anderen im Büro und ging später. Ich ließ mir alle Unterlagen der letzten Monate bringen. Ich ließ mir die Ergebnisse der Experimente schildern, für die wir Geld bekommen hatten, und fragte nach den Einzelheiten der neuen Projekte. Ich war leise und knapp. Sie bekamen Angst vor meiner Energie und meiner Konzentration, die sie fast schon vergessen hatten. Denn es

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