Lea
gleiche Internetseite studierte, mit der auch er sich über Geigen der Familie Guarneri informiert hatte. In der Nacht änderte er das Paßwort für die Datei mit seinen Forschungsgeldern. Aus DELGESÙ machte er ÙSEGLED und später ÙSEDEGL .
Er spürte: Es war eine Zeitbombe. Er konnte die Finanzlücke ein paar Monate vertuschen, vielleicht ein Jahr, länger nicht. Er dachte an Rechnungen einer Scheinfirma. Er begann, Lotto zu spielen. Eine Art Bankenphobie stellte sich ein und zeigte sich daran, daß er beim Internetbanking gedankliche Blockaden hatte und bei kinderleichten Operationen Fehler machte. Der Name THUN irrlichterte oft durch die Träume.
Wenn es ganz schlimm kam, sagte er sich, konnte er immer noch die Geige verkaufen. Eigentlich war es unvorstellbar, sie Lea wieder wegzunehmen, und wenn er an die Worte dachte, die er sagen müßte, wurde ihm schwindlig. Aber sie war Millionen wert, und der Gedanke daran vermochte ihn trotz allem zu beruhigen.
Es kamen Konzerte im Ausland. Paris, Mailand, Rom. Die Veranstalter und Agenten mochten es nicht, daß der Vater dabei war. Nicht, daß sie etwas gesagt hätten. Doch der Händedruck war kühl, reserviert, und sie wandten sich demonstrativ nur an die Tochter. Es war ein Wechselbad der Gefühle: Bald schien Lea dankbar für seine Gegenwart, bald gab sie ihm das Gefühl, sie wäre lieber ohne ihn unterwegs. Es gab glückliche Momente, wenn sie den Kopf an seine Schulter legte. Es gab demütigende Momente, wenn sie ihn einfach stehenließ, um mit dem Dirigenten zu plaudern.
In Rom wäre er mit ihr gern zu der Kirche an dem kleinen Platz gegangen, aus der damals die Musik gekommen war, die das Eis gebrochen und die Gefühle für Marie begradigt hatte. Das war zehn Jahre her.
»Ich wäre gern mit ihr auf der Bank gesessen und hätte über all die Dinge geredet, die inzwischen geschehen waren«, sagte er. »Ich habe nicht gemerkt, daß das der Wunsch eines Mannes in den Fünfzigern war, der einem jungen Mädchen fremd sein mußte. Erst als ich dann allein dort saß, dämmerte es mir. Es tat trotzdem weh, die Zeit nämlich hätte sie gehabt. Auch die Musik in der Kirche tat weh, so daß ich floh und mich in einem Stadtteil, in dem wir damals nicht waren, in eine Bar setzte. Ich war zu betrunken, um ins Konzert zu gehen. Es sei mir danach gewesen, den Abend allein zu verbringen, sagte ich beim Frühstück. Nun war sie es, die traurig blickte.«
26
UND DANN KAM DIE REISE nach Stockholm, eine Reise, die auf Van Vliets innerer Landkarte ganz Skandinavien auslöschen sollte.
Sie begann mit Leas Flugangst, einer Angst, die sie bisher nicht gekannt hatte. Sie war bleich, zitterte und mußte auf die Toilette.
»Nachträglich will sie mir wie eine besonders kluge Angst erscheinen«, sagte Van Vliet. »Die Schwerkraft war ihre Verbündete im Kampf gegen die inneren Zentrifugalkräfte. Würde sie aufgehoben, bestand die Gefahr, daß Lea zerspränge, sie verlöre das innere Zentrum, die Fetzen ihrer Seele würden durcheinanderwirbeln, und sie müßte es wie eine Vernichtung erleben.
Das war mein Gedanke, als wir auf der Rückfahrt an Deck der Fähre saßen. Als Hälsingborg in der Dämmerung zurücksank, wünschte ich, es würde dort nie mehr hell werden.«
»Und wenn ich plötzlich nicht mehr weiter weiß?« fragte Lea im Flugzeug. Und dann tat sie, was sie noch nie getan hatte: Sie erzählte von einem Gespräch mit David Lévy. Sie muß zu ihm von ihrer Angst gesprochen haben, das Gedächtnis könnte sie im Stich lassen. Van Vliet zuckte zusammen, als er das hörte. Er dachte an jenen Moment zurück, den er nie vergessen hatte: als Lea in der Aula der Schule, bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt, den Bogen ansetzte und er sich, ohne jeden Anlaß, gefragt hatte, ob ihr Gedächtnis der Belastung standhielte. Lévy hatte Lea stumm angesehen, war dann aufgestanden und im Musikzimmer hin und her gegangen. Und dann hatte er ihr von den Empfindungen erzählt, die im schrecklichsten Moment seines Lebens, als er mitten in der Oistrach-Kadenz des Beethoven-Konzerts nicht mehr weiterwußte, über ihn hereingebrochen waren. Die Panik sei wie ein eiskaltes, lähmendes Gift durch ihn hindurchgeflossen, muß er gesagt haben. Und das Gift habe noch Stunden danach jede andere Empfindung vernichtet. Daß und wie er von der Bühne geflohen sei, wisse er nicht mehr, all diese Bewegungen seien, wenn er sie überhaupt gespürt habe, sofort aus der Erinnerung gelöscht worden. In der
Weitere Kostenlose Bücher