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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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irgendwie schaffen. Ein Mann, der aus dieser Einsicht heraus mit allen anderen eine große Solidarität empfand – obwohl ich dieses Wort von ihm nie gehört habe und er es wohl auch zurückgewiesen hätte. Ja, ich glaube, er hätte es zurückgewiesen, es wäre ihm zu betulich erschienen. Trotzdem: Es ist das treffende Wort für das, was er in jener Nacht in sich wachsen spürte und was ihn von nun an, über alle Zuneigung und Bewunderung hinaus, mit seiner Tochter verband, die in jener Nacht mit ihren Guarneri-Tönen das ganze Haus verzauberte.
    Als erstes hatte der Mann, der über ihnen wohnte, wütend geklingelt. Er war erst vor kurzem eingezogen und wußte nichts von Lea. Van Vliet tat etwas Entwaffnendes: Er zog ihn herein und bot ihm einen Stuhl an, von dem aus er Lea sehen konnte. Dort saß er in seinem Schlafanzug und wurde immer stiller. Durch die offene Tür drang die Musik ins ganze Treppenhaus, und als Van Vliet nachsah, saßen die anderen Mieter, die von Lea wußten, auf den Treppenstufen und legten den Finger an die Lippen, wenn jemand ein störendes Geräusch machte. Der Applaus füllte das Treppenhaus. »Zugabe!« rief jemand.
    Van Vliet zögerte. Durfte man Lea in ihrem imaginären Konzertsaal stören? War, was sich in ihr aufgebaut hatte, nicht viel zu zerbrechlich? Doch Lea hatte das Klatschen gehört und trat nun von sich aus mit raschelndem Kleid ins Treppenhaus. Sie verbeugte sich, begann zu spielen und hörte nicht mehr auf, bis eine weitere Stunde vergangen war. Inzwischen war ihr Mienenspiel lebendig und flüssig wie früher, man sah und hörte, wie sie von Minute zu Minute mit dem Instrument vertrauter wurde, sie wählte Stücke von wachsendem Schwierigkeitsgrad, die alte Virtuosität war wieder da, und obwohl die Leute zu frösteln begannen, blieben sie sitzen.
    »Es war das erste Konzert nach dem Zusammenbruch«, sagte Van Vliet. »In gewissem Sinne das schönste. Meine Tochter, sie trat aus dem Dunkel hinaus ins Licht.«
    MADEMOISELLE BACH IST ZURÜCK ! titelten die Zeitungen. Die Agenten rissen sich um sie, Lea konnte sich vor Angeboten kaum retten. War es das, was Van Vliet gewollt hatte?
    Er hatte es gedacht. Bald jedoch merkte er, daß er seine Tochter nicht, wie erhofft, zurückgewonnen hatte. Sie feierte Erfolge, daran lag es nicht. Doch sie schien nicht bei sich selbst zu sein. Porzellan – das war das Wort, das er immer wieder benutzte, wenn er über diese Zeit sprach. Sie und ihr Tun schienen ihm wie aus durchschimmerndem Porzellan zu bestehen: filigran, kostbar und sehr zerbrechlich. Er hegte die Hoffnung, dahinter möge es einen festen Kern geben, der bliebe, wenn das Porzellan zerbräche. Immer mehr aber machte die Hoffnung der Befürchtung Platz, daß sich, sollte es zu einem Zerbrechen kommen, dahinter nur eine Leere auftäte, eine Leere, in der seine Tochter für immer verschwände.
    Leas Haut, die schon immer sehr weiß gewesen war, wurde noch bleicher, fast durchsichtig, und an der Schläfe zeigte sich immer öfter eine bläuliche Ader, in der es pochte, seltsam unregelmäßig, ein rhapsodisches Zucken, Vorbote eines Geschehens, in dem alle Ordnung verlorenginge. Und auch wenn ihre neuen Töne viel Lob ernteten: Etwas, fand der Vater, stimmte mit ihnen nicht. Schließlich kam er dahinter: »Jetzt, wo die Musik nicht mehr eingefaßt war in die Liebe zu Marie und Lévy, wo sie davon nicht mehr gehalten und getragen wurde, klang sie für meine Ohren unpersönlich, gläsern und kalt. Manchmal dachte ich: Es klingt, als stünde Lea vor einer hellen, trockenen Wand aus hartem, kaltem Schiefer. Dagegen konnte auch Joseph Guarneri nichts ausrichten. Es lag nicht an der Geige. Es lag an ihr.«
    Es gab Ausnahmen, Abende, da alles wie früher klang, von innen heraus gespielt. Doch dann gab es etwas anderes, das Van Vliet quälte: Es schien ihm, als spiele Lea in Gedanken auf Lévys Amati – als sei die Guarneri zum Kristallisationspunkt des Wahns geworden, daß mit Lévy wieder alles in Ordnung sei. Aus der neuen Geige, die ein befreiendes Gegengewicht zur Vergangenheit hatte werden sollen, war – dachte er in solchen Momenten – ein neues Gravitationszentrum für die alten Phantasien geworden.
    Obwohl es anders vereinbart war, verriet ihr Agent der Presse, um was für eine Geige es sich handelte. Van Vliets Mitarbeiter lasen es, und man konnte in ihrem Blick die Frage lesen, woher er das Geld dafür hatte. Durch die offene Tür von Ruth Adameks Büro sah er, daß sie die

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