Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg (German Edition)
Ich weiß genau, wie sich das Vogelbaby gefühlt hat, als es am Ende seine Mutter fand.
Suchen Sie Ihre Wahrheit und
sprechen Sie sie aus
Meine Freundin Betsy Cohen war mit ihrem zweiten Kind schwanger, als ihr kleiner Sohn, Sam, neugierig wurde, wo genau in ihrem Körper sich das Baby denn befand. »Mama«, fragte er, »sind die Arme von dem Baby in deinen Armen?« – »Nein, das Baby ist in meinem Bauch«, antwortete sie. »Sind die Beine von dem Baby in deinen Beinen?« – »Nein, das ganze Baby ist in meinem Bauch.« – »Wirklich, das ganze Baby ist in deinem Bauch? Bist du sicher?« – »Ja, das ganze Baby ist in meinem Bauch.« – »Aber, Mama, was wächst denn dann in deinem Po?«
Diese Art von Ehrlichkeit ist bei Kindern normal, aber kommt bei Erwachsenen praktisch gar nicht mehr vor. Wenn Kinder aufwachsen, bringen wir ihnen bei, höflich zu sein, aufzupassen, was sie sagen und niemandem zu nahe zu treten. An sich ist das keine schlechte Sache. Als ehemals schwangerer »Wal« bin ich froh, dass die meisten Leute manche ihrer Beobachtungen für sich behielten. Aber wenn wir lernen, uns höflich auszudrücken, kommt uns eben auch ein Teil unserer Authentizität abhanden.
Authentische Kommunikation ist nicht immer einfach, aber sie ist die Grundlage für funktionierende Beziehungen zu Hause und für echte Effektivität bei der Arbeit. Trotzdem scheuen Menschen, um sich selbst und andere zu schützen, immer wieder vor Ehrlichkeit zurück. Diese Zurückhaltung verursacht eine ganze Reihe von Problemen: unangenehme Themen, die nie angesprochen werden, Spannungen, die sich nicht wieder abbauen, inkompetente Manager, die befördert statt hinausgeworfen werden und so weiter. Oft werden diese Situationen nicht besser, weil keiner ausspricht, was wirklich los ist. Es kommt so selten vor, dass wir mutig genug sind, die Wahrheit zu sagen.
Am Arbeitsplatz ehrlich zu sein ist besonders schwierig. Alle Organisationen haben irgendeine Form von Hierarchie, dadurch wird die Leistung einer Person durch die Wahrnehmung einer anderen Person bewertet. Deshalb wird es noch unwahrscheinlicher, dass Menschen die Wahrheit sagen. Vor dieser Herausforderung steht jede Organisation, egal, wie wenig hierarchisch sie zu sein versucht. Bei Facebook bemühen wir uns sehr um flache Hierarchien. Jeder sitzt an einem einsehbaren Schreibtisch in einem Großraumbüro – es gibt keine Einzelbüros, Glaskästen, oder räumliche Trennungen für irgendeinen von uns. Wir halten jeden Freitag eine Besprechungsrunde für die gesamte Firma ab, wo jeder Fragen stellen oder seine Meinung sagen kann. Wenn Leute mit Entscheidungen nicht einverstanden sind, posten sie das in der firmeneigenen Facebook-Gruppe. Dennoch wäre ich naiv oder mir selbst gegenüber nicht ehrlich, wenn ich glauben würde, die Kollegen hätten immer das Gefühl, mich, Mark oder selbst Gleichrangige kritisieren zu können.
Wenn Psychologen Machtdynamiken analysieren, kommen sie zu dem Ergebnis, dass Menschen in niedrigeren Positionen eher zögern, ihre Meinung zu äußern. Und wenn sie es tun, dann schränken sie ihre Aussagen oftmals ein. 1 Das erklärt auch, warum Frauen zusätzliche Ängste entwickeln, wenn sie in einem beruflichen Umfeld ehrlich sind: Angst, nicht als Teamplayer wahrgenommen zu werden. Angst, als destruktiv oder nörglerisch wahrgenommen zu werden. Angst, dass konstruktive Kritik beim Empfänger einfach nur als platte, gewöhnliche Kritik ankommt. Angst, dass wir durch klare Ansagen Aufmerksamkeit auf uns ziehen, die uns Angriffen aussetzen könnte (diese Angst kommt von der gleichen inneren Stimme, die uns davon abhält, uns an den Tisch zu setzen).
Kommunikation funktioniert dann am besten, wenn wir Angemessenheit mit Authentizität verbinden; wenn wir diesen optimalen Punkt finden, an dem Meinungen nicht auf verletzende Weise ehrlich sind, sondern auf behutsame. Die Wahrheit zu sagen, ohne anderen zu nahe zu treten, ist eine Fähigkeit, die manche von sich aus mitbringen und andere erst lernen müssen. Ich habe in diesem Bereich eindeutig Hilfe nötig gehabt. Zum Glück habe ich sie bekommen.
Als Dave bei Yahoo arbeitete, nahm er an einer Weiterbildung für Manager teil. Diese wurde von Fred Kofman geleitet, einem ehemaligen MIT -Professor, der das Buch Conscious Business geschrieben hat. Dave hasst Fortbildungen aller Art, und die Personalabteilung von Yahoo musste ihn zwingen, zu dem zweitätigen Seminar zu gehen. Nach dem ersten Tag kam er nach
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