Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg (German Edition)
Lutscher bekommen und ich nicht!«, schrie ich zurück, hatte also ein hervorragendes Argument. Meine Mutter hieß uns, uns hinzusetzen und uns anzusehen. Ich durfte nicht erklären, wie ausgesprochen ungleich die Lutscherverteilung war, solange ich nicht die Gefühle meiner Schwester anerkannte. »Michelle, ich verstehe, dass du dich ärgerst, weil ich den letzten Lutscher gegessen habe, und du ihn haben wolltest.« So schmerzhaft das damals auch war, die Meinungsverschiedenheit wird doch klarer, wenn man über die Sichtweise anderer nachdenkt und so an den Ausgangspunkt für eine Lösung gelangt. Wir alle möchten gehört werden. Indem wir uns darauf konzentrieren, anderen zu zeigen, dass wir ihnen zuhören, werden wir tatsächlich zu besseren Zuhörern. Heute mache ich das so mit meinen Kindern. Und auch wenn sie dieses Verfahren wahrscheinlich genauso wenig mögen wie ich damals, finde ich es wunderbar, wenn ich meinen Sohn zu meiner Tochter sagen höre: »Es tut mir leid, wenn du dich ärgerst, dass du beim Monopoly verloren hast, aber ich bin älter als du. Deshalb ist es normal, dass ich gewinne.« Für einen Siebenjährigen gar nicht so übel. (Fred würde meinem Sohn nahelegen, auf das »aber« und alles, was danach kommt, zu verzichten, da die vorausgegangene Aussage dadurch negiert wird. Stellen Sie sich jemanden vor, der sagt: »Ich mag dich wirklich, aber …«).
Sich eines Problems bewusst zu werden ist der erste Schritt zur Lösung. Wir können nicht wissen, wie unser Handeln von anderen wahrgenommen wird, wir können nur zu erraten versuchen, was sie denken. Deutlich wirkungsvoller aber ist es, direkt zu fragen. Mit echtem Wissen können wir unser Handeln anpassen und so Fehler vermeiden. Trotzdem bemühen sich die Menschen eher selten darum, ausreichend Feedback einzuholen. Vor einigen Jahren interviewte mich Tom Brokaw für einen Beitrag über Facebook. Tom ist ein hervorragender Journalist, und ich kam mir vor, als holpere ich etwas durch einige meiner Antworten. Danach fragte ich ihn, was ich hätte besser machen können. Er schien so überrascht über meine Frage, dass ich sie noch einmal wiederholte. Er sagte, dass ich in seiner gesamten beruflichen Laufbahn erst die zweite Person sei, die ihn um Feedback gebeten habe.
Die Strategie, sich Anregungen aus vielen Richtungen zu holen, wurde mir zum ersten Mal von Robert Rubin vorgeführt. Er war Finanzminister, als ich 1996 im Ministerium anfing. Während meiner ersten Woche dort wurde ich zu einer Besprechung über die Umstrukturierung der Bundessteuerbehörde eingeladen. Als wir den Raum betraten, saßen ungefähr zehn hochrangige Ministeriumsmitarbeiter um den Tisch herum. Da ich vom Thema keine Ahnung hatte, setzte ich mich in die hintere Ecke des Raumes (ja genau, noch nicht mal in die Nähe des Tisches). Gegen Ende der Besprechung drehte sich Minister Rubin plötzlich um und fragte: »Sheryl, was meinen Sie dazu?« Mir verschlug es die Sprache – mein Mund öffnete sich, aber es kam kein Ton heraus. Als er sah, wie erschrocken ich war, erklärte Minister Rubin, warum er mich in Verlegenheit gebracht hatte: »Weil Sie neu sind und noch nicht so tief in unserer Arbeit drinstecken, dachte ich, dass Sie womöglich Dinge sehen, die wir übersehen haben.« Offensichtlich nicht. Aber die Botschaft, die Minister Rubin uns damit übermittelte, kam trotzdem an: nämlich wie wichtig es ist, sich (im wahrsten Sinne des Wortes) Ideen aus allen Ecken zu holen.
Zudem war sich Finanzminister Rubin der Gefahren bewusst, die sich ergeben, wenn man Führungspersönlichkeiten blind folgt – beziehungsweise in seinem Fall sich blind folgen lässt. Bevor er Finanzminister wurde, war Rubin stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates von Goldman Sachs. Am Ende seiner ersten Woche in dieser Position fiel ihm auf, dass Goldman Sachs stark in Gold investiert hatte. Er fragte jemanden, warum. Der verdutzte Angestellte antwortete: »Das waren Sie.« – »Ich?«, fragte Rubin. Offenbar hatte er am Tag zuvor bei seiner Antrittsrunde auf dem Börsenparkett gesagt: »Gold sieht interessant aus.« Dies wurde als »Rubin mag Gold« wiedergegeben, und irgendjemand hatte dann Millionen Dollar ausgegeben, um den neuen Chef glücklich zu machen.
Mehr als ein Jahrzehnt später erlebte ich meinen eigenen »Rubin mag Gold«-Moment. Als ich bei Facebook anfing, stand ich vor einem Dilemma: Ich musste den unternehmerischen Charakter der Firma stärken und gleichzeitig
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