Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
zerschellt. So lange überlebt kein
Mensch in der eisigen Nordsee. Außerdem hatten wir zwischenzeitlich Ebbe, da
wird jeder Körper von der Strömung ins offene Meer gezogen. Es tut mir leid.
Vielleicht wird die Leiche ja in den nächsten Tagen irgendwo angespült, aber
ich glaube das kaum. Der Blanke Hans gibt im Winter selten wieder etwas her.«
Leander bedankte sich für den Anruf, legte den Hörer auf die
Gabel und ging wie betäubt in die Küche zurück. Jetzt war er so nah an den
Antworten gewesen, die er, ohne es zu wissen, sein Leben lang gesucht hatte,
und dann soff sein Großvater einfach ab. Warum war er nur im Sturm hinausgefahren?
Die Erklärung Björnsens, er habe am Morgen als Erster draußen sein wollen,
hielt Leander für blanken Unsinn. Was gab es auf den Sandbänken schon zu
finden, heutzutage, wo schließlich keine wertvolle Fracht mehr auf Holzschiffen
durch die Nordsee transportiert wurde!
Da klingelte das Telefon zum dritten Mal, und diesmal erkannte
Leander sofort, wer am anderen Ende war.
»Strandläufer auf Amrum haben auf dem Kniepsand nach Strandgut
gesucht und eine Leiche gefunden«, berichtete Björnsen.
»Kniepsand?«, hakte Leander nach. »Ist das eine der Sandbänke,
von denen Sie sprachen?«
»Nein, so heißt der Strand auf Amrum.«
»Ist es denn sicher, dass es sich um meinen Großvater handelt?«
»Nee, noch nich. Ein alter Mann, offenbar ertrunken. Ob es der
olle Hinnerk ist, muss die Kripo feststellen. Die Dorfsheriffs aus Wittdün
haben sofort in Flensburg Bescheid gesagt, die sind schon unterwegs.«
»Vielen Dank«, entgegnete Leander niedergeschlagen, obwohl er
mit genau dieser Nachricht hatte rechnen müssen.
Nun hatte er Gewissheit – sein Großvater war tot.
Frau Husen! Er musste der Haushälterin Bescheid sagen. Mit
schweren Gliedern machte sich Leander auf den Weg zum Nachbarhaus. Frau Husen
erkannte offensichtlich sofort, dass er keine guten Nachrichten brachte.
Wortlos gab sie den Weg frei und ließ Leander an sich vorbei in den Flur.
»Links«, sagte sie matt.
Leander betrat einen Raum, der sich als kleine, altmodisch
eingerichtete Wohnstube herausstellte, mit Spitzendecken, wohin das Auge fiel.
Offenbar gehörte das Klöppeln zu Frau Husens Lieblingsbeschäftigungen. Er
setzte sich unaufgefordert in einen Sessel. Frau Husen nahm ihm gegenüber Platz
und schaute ihn erwartungsvoll an.
Solche Situationen kannte Leander aus seiner aktiven Zeit als
Beamter bei der Kriminalpolizei, als er häufiger Todesnachrichten in Folge von
Unfällen oder Kapitalverbrechen hatte überbringen müssen. Dass man sich an so
etwas nie gewöhnt, zeigte das Pfeifen in Leanders linkem Ohr, das nun
unvermittelt laut einsetzte.
»Er ist tot?«, fragte Frau Husen mit einer derart kraftlosen
Stimme, dass Leander sie erstaunt ansah und wortlos nickte.
Frau Husen sackte in sich zusammen. Von einem Moment auf den
anderen schrumpfte sie auf eine Art, die Leander der ohnehin schon kleinen Frau
nicht zugetraut hätte. Er berichtete, was er von Björnsen und von der Küstenwache
erfahren hatte. Frau Husen nickte zu allem, während ihr lautlos Tränen über die
Wangen liefen.
»Lassen Sie mich bitte allein«, forderte sie Leander
schließlich auf, ohne sich zu erheben.
Leander stand auf und überließ die Frau sich selbst und ihrer
Trauer.
Den Nachmittag verbrachte er in der Wohnstube seines
Großvaters. Er saß einfach da und hing seinen Gedanken nach, die immer wieder
zum Sommer zurückkehrten, zu den ruhigen Stunden, in denen er und sein
Großvater sich im Garten sitzend und redend langsam einander angenähert hatten.
Der alte Mann hatte viel über Leanders Vater, seinen Sohn, hören wollen, ohne
jedoch selber mehr als nötig von ihm zu erzählen. Alles hatte er aufgesaugt wie
eine Pflanze kurz vor dem Verdursten. Wenn Leander etwas wissen wollte, war er
ausgewichen. Einmal waren sie deswegen fast aneinandergeraten, weil Leanders
Geduld stark strapaziert wurde.
»Noch nicht, mein Junge«, hatte Hinnerk gesagt, »lass mir etwas
Zeit, dich zuerst richtig kennenzulernen. Eines Tages werde ich dir alles
erzählen. Ich habe Fehler gemacht, über die ich nicht gerne rede; Fehler, die
deinen Vater aus dem Haus getrieben haben. Ich weiß auch, dass du jetzt, nach
dem Tod deines Vaters, ein Recht auf Antworten hast. Aber lass mir Zeit,
bitte.«
Gegen Abend kam Frau Husen, um zu fragen, ob Leander etwas
brauche, aber er lehnte dankend ab.
»Ich habe Herrn Petersen informiert«,
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