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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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sich. Sie ist nicht mehr verhaftet mit den Schlacken von Selbstsucht, Selbstbestätigung und Konkurrenzdruck. Wenn wir uns selbst relativieren, erhalten wir Zugang zu anderen Reichtümern. Wir können uns eher für das Panorama dieser Welt öffnen, weil der Umweg über Selbstbezogenheit und Rentabilität nicht mehr so viele Energien bindet.
    Eine 59-jährige Geschäftsfrau schrieb mit ihren Füßen in den Sand: »Es gibt mich.« Früher lag sie am Strand, um sich die knackige Bräune für ihre Auftritte zu erarbeiten, nun zieht sie ihre eigene Spur in der Wärme des Sandes. »Auf die unzähligen Sonnenbrände bin ich nicht mehr scharf, nur weil ich möglichst schnell braun werden wollte. Jetzt bin ich in dem Alter, wo ich darauf pfeifen kann, rumzulaufen wie ein braunes Huhn.« Weniger mit der Bestätigung durch andere beschäftigt, spüren wir eher, was Resonanz in uns erzeugt. Resonanz bedeutet »anklingen, wider-hallen, zurück-tönen«. Echos, die wir jetzt hören, handeln nicht mehr nur von uns, sondern von dem, was zu uns spricht.
Da wir weniger erwarten, erhalten wir viel. Wir verabschieden uns von den Halterungen nüchterner Rationalität, um zu streunen, wohin unsere intuitive Einfühlung uns führt. Atmosphären, Stimmungen erfassen uns, weil wir uns nicht mehr dazwischen schieben mit unseren Denksystemen und Kostümproben.
    Wurden wir vorher durch Resonanz von außen und Gefallen-um-jeden-Preis in unserer Bedürftigkeit genährt, rückt nun die Resonanz von innen an ihre Stelle. Unsere Seelenlandschaft wird eigensinniger und reicher. »Ich bin zwar immer noch dieselbe, aber ich fülle mich jetzt mehr mit mir selbst aus«, so beschrieb es eine Klientin.
    Wahrzunehmen was ist, hinzuschauen was uns begegnet, ist gewiss keine leichte Sache, haben wir doch jahrelang geübt, mitzurennen, uns selbst zurückzustellen, uns in Aktionitis zu ersäufen und mit uns selbst beschäftigt zu sein. Lebenserfahrung hat unseren Blick geschärft. Die rosarote Brille, die vorher die Welt schmeichelhaft tönte, ist den offenen Augen gewichen. Wir nehmen nicht nur besser wahr, wir zeigen auch mehr, wer wir sind. Die Schleier der Hormone haben sich gelichtet, das macht die Augen klarsichtiger, wacher und direkter.
    Damit komme ich zur Geschichte vom Beginn zurück. Die Kunst und die Lust, sich dorthin zu sehnen, wo wir sind und uns dem zu öffnen, was ist, scheint mir das Geheimnis lebendigen Älterwerdens. Auf dem Weg dorthin erwarten uns, wie es die Geschichte von Joshua Bell zeigt, atemberaubende Begegnungen, wenn wir uns aufmachen und diesen Weg ganz und gar wollen. Jetzt ist die Zeit, sich dem zu überlassen, was das Leben für uns heranschwemmt. Wir selbst werden lebendiger, wenn wir staunend und erkennend dem begegnen, was uns Menschen zurufen, was die Musik uns zuspielt, und was die vielen tausend Bilder zu uns
sprechen, die von unserem Blick gerahmt werden wollen. Wer verlangt von uns, dass die Dringlichkeiten sich nicht wandeln dürfen, wenn draußen die Sonne, der Wind, der Geruch der Wälder nach uns rufen? Mit klaren Augen ist das junge Alter eine seelische Revolution.

Ich bin, die ich bin
    Wie lassen sich die schleichenden Metamorphosen des Älterwerdens erklären? »Ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich diese Lässigkeit mit sechzehn oder mit sechsundzwanzig gehabt hätte!«, amüsiert sich eine sechzigjährige Lehrerin. Und eine zwei Jahre ältere Bibliothekarin: »Endlich bin ich im Alter der Wurstigkeit. Ich sage, was ich denke; ich trage, was mir gefällt; ich lese nur noch Bücher, die meine Freunde sind; ich flirte mit wem und wann ich Lust habe; ich schwindle, wenn jemand meine Wahrheit nicht verdient; ich verstecke mich nicht mehr und genieße meine freche, unanständige Gelassenheit.« Ein Sportlehrer: »Ich ziele immer noch über das Ziel hinaus, aber schon lange nicht mehr daneben.« Und ein frisch gebackener Großvater: »Ich merke mein Älterwerden am meisten daran, dass ich Weihnachten jedes Jahr weniger mag.«
    Auf dem Hochplateau dieser Lebensetappe versammeln sich all die Alter des bisherigen Lebens und ordnen sich zu einem reichhaltigen, schwingenden Reigen. Das selige und verträumte Kind, die vorlaute Göre, die rebellische, tollpatschige Pubertierende, die ungeduldige junge Erwachsene, die mit unerbittlicher Strenge bis hin zur Arroganz die eigenen Fehler und die der anderen ahndet. Heute lächeln wir über die Besessenheit, mit der wir damals über alles eine Meinung hatten und andere mit

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