Lebe deine eigene Melodie
Körper zu bieten hat. Vor ein paar Jahren hätte ich manche von ihnen vor lauter Beschäftigung mit den sogenannten »ernsten Dingen« wahrscheinlich kaum bemerkt. Heute fallen mir sofort einige ein, die ich nicht mehr missen möchte:
Die Wonne, in das wohl riechende, frisch bezogene Bett zu schlüpfen.
Diese Empfindung von Samt und Seide, wenn man ein Kind über Haut und Haare streichelt.
Der Geschmack von frischem Brot, wenn man sehr hungrig ist.
Essen, wenn man so richtig ausgehungert ist.
Dieser besondere rote oder weiße Saft, den man abends bei Sonnenuntergang mit seinem liebsten Menschen teilt.
Lachen aus vollem Hals.
Frisches Wasser nach einer Wanderung.
Barfuß im Sand laufen.
Die geliebte Hand, die einem den Körper streichelt – und es macht einem nichts aus, wenn die Haut ein bisschen spannt, hängt oder Falten wirft.
Der liebevolle Blick, der mich meint.
Gesellige Feste mit Menschen, von denen man nicht viel weiß.
Wenn mir jemand ein Gedicht liest oder eine Geschichte erzählt.
Die Wärme, die in alle Poren des Körpers fließt, nachdem man aus der winterlichen Kälte heimkehrt.
Schweigend dem Feuer im Kamin lauschen.
Das rein körperliche Vergnügen einzuschlafen, wenn man todmüde ins Bett fällt.
Nach einer Reise heimkommen.
Die Liste kann jeder für sich selbst fortsetzen. Sie ist endlos. Unser Körper ist erfinderisch, wenn wir Ja zur Sinnlichkeit sagen und ihre diversen Seligkeiten ehren. Es bedarf nicht mehr eines Champagners, um die Schönheit einer sanften Abendstimmung zu entdecken. Es braucht auch nicht mehr eine neue Verliebtheit oder die Ankündigung eines Erfolges, um irrsinnig selig zu sein. Jeder der aufgezählten sinnlichen Körperfreuden schenkt Lust, Schönheit und Genuss, gleichgültig, wie alt man ist.
Habe ich zu viel versprochen? Nein, denn letztlich ist es irrelevant, wie alt man ist, wenn es um das geht, was wir tief innen fühlen und erleben. Je mehr wir uns unseren Sinnen zuwenden, desto mehr offenbaren sich uns die unendlich vielen kostbaren Genüsse, die sich unsere Wahrnehmung rahmt. Die Freude, von innen her zu leben und die Befriedigung,
die so entsteht, gehen niemals weg, selbst wenn der morgendliche Blick in den Spiegel uns mit gelindem Schrecken erfüllt. Hierzu eine 60-Jährige: »Also ich bin glücklich so alt zu sein, wie ich bin. Natürlich ist das ein Klischee, aber es prügelt wenigstens die Alternative aus einem heraus. Und wenn man daran glaubt, ist es erstaunlich, wie viel Leben möglich ist.«
Nicht mehr gefallen müssen?
»Man muss niemandem mehr gefallen!« Dieser Satz, im Vorbeigehen aufgeschnappt, gab mir zu denken. Es ist ja nicht dasselbe, ob ich gefallen muss, gefallen will oder gefallen kann. Gibt es wirklich eine magische Grenze, jenseits der man nicht mehr gefallen muss? Mit 50, 60 oder 70? Wer bestimmt sie? Und umgekehrt: Muss man vorher unbedingt gefallen? Wenn ja, wem? Am besten allen, den Männern, den Frauen, nur manchen, oder sich selbst? Natürlich schadet es nicht, wenn man sich selbst gefällt, aber es ist eben nicht alles. Jemand, der schon von Weitem signalisiert, man müsse ihn eben so nehmen, wie er sei und seine unsichtbaren inneren Werte berücksichtigen, kann wegen seiner unattraktiven Selbstgefälligkeit eine Zumutung sein. Genauso wie der weibliche oder männliche Hungerkünstler, der im Restaurant im Salat pickt und Mineralwasser nippt. Beide leben dieses »Nicht-gefallen-Müssen«, beiden mangelt es an Selbsteinschätzung, und beide leben eine Haltung, die auf Dauer nicht glücklich macht.
Allzu große ästhetische Selbstgenügsamkeit macht einsam. Deswegen kann ich diesen Satz vom Nicht-gefallen-Müssen so nicht unterschreiben, weil er unterschwellig archaische Bilder über das Älterwerden suggeriert. Einerseits die Angst davor, ausrangiert zu werden, andererseits die Befürchtung, in der Unsichtbarkeit zu verschwinden, was weder Frau noch Mann für sich akzeptieren sollten. Äußerlich müssen wir uns heute nicht wesentlich von Jüngeren unterscheiden. Wir können fit und schlank bleiben, wir können uns pfiffig kleiden und sportlich betätigen, weil wir es so wollen. Dennoch sind wir nicht gefeit vor diesen Schattenseiten, die das Älterwerden bedeuten. Einige Veränderungen
sind sichtbar und schmerzlich spürbar – die Muskeln werden schwächer, die Haare werden grau und dünner, die Haut wird faltig. Und irgendwo erreicht jede Schönheitsarbeit ihren Punkt, an dem sie nichts mehr hilft, denn Falten lassen sich nicht
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