Lebe deine eigene Melodie
unseren Erkenntnissen zwangsfütterten, in der Hoffnung, die Welt über Nacht ändern zu können. Später um die dreißig waren wir zwar eher zur Kapitulation bereit, aber die Zensur gegenüber uns selbst war immer noch gnadenlos. Sie machte sich an hochgesteckten Zielen fest, die man irgendwie schaffte, um endlich den anderen ein Schnippchen zu schlagen und wie
Till Eulenspiegel die Zunge herauszustrecken. In jener Phase des Sich-Ausgebens, des Sich-Erschöpfens herrschte und triumphierte das, was sich aus heutiger Sicht der Vernunft und dem Kalkül entzieht. Wie könnte man sich sonst zu freiwilligen Gefangenen von Karriere und Leistungskampf machen und billigend in Kauf nehmen, vor lauter Geschäftigkeit kaum Augen für die Begegnung mit den Dingen und den anderen zu haben? Glücklicherweise hatten viele von uns eine Familie, die Loyalität und Geduld hochhält und sich selten beklagt.
Irgendwann in den Fünfzigern wird man etwas weiser. Mit Verwunderung stellt man plötzlich fest, dass sich die Erde dennoch weiterdreht, auch wenn man sich ein Nickerchen gönnt. Man merkt, dass das Leben nicht aus den Fugen gerät, wenn man es etwas lässiger angeht. Und irgendwann kapiert man sogar, dass nicht alle verfügbaren Stunden der Arbeit gehören müssen. Auch wenn die Arbeit noch Freude bereitet, so ist sie nicht mehr das Ein-und-Alles im Leben. Man ist nicht mehr so verbissen, weil die erlebten Niederlagen, Misserfolge, Zweifel und Fehler einen gelehrt haben, dass man sich irren und täuschen kann, und dass dieses unerbittliche Diktat des Richtigmachens, die Poesie, den Humor, die Lässigkeit und die Schönheit vertreibt. Stattdessen wächst vielleicht die Fähigkeit des Staunens, der Dankbarkeit, dass Freundschaften trotz Krisen wie ein goldener Lebensfaden weitergesponnen werden, dass immer wieder Versöhnung und Liebe gelingen, dass der eigene Körper einen nicht im Stich lässt, dass es Hoffnung gibt, und dass sich dieses unspektakuläre Glück im Alltag immer wieder einstellt, wenn eine geliebte Hand das Glas nachfüllt, wenn ein handgeschriebener Brief ankommt oder wenn ein alter Schlager im Radio einen plötzlich zu Tränen rührt.
Eine andere große Erleichterung, die diese Epoche markiert: Man verliert den Ehrgeiz, diesen zwanghaften Willen, erfolgreich zu sein. Der Autor und Künstler William Briggs aus London beschrieb es so: »Um die sechzig hast du wahrscheinlich all die Erfolge eingeheimst, die für dich je erreichbar waren. Wenn nicht, dann gelingt es dir wahrscheinlich auch jetzt nicht mehr. Also kannst du dich jetzt mit gutem Gewissen zurücklehnen.«
Sich selbst zu schätzen, und das, was man bisher erreicht hat, ist sicher eine der Gaben, die diese Phase bereithält. Wir kennen die leicht durchschaubare Falle des Größenwahns, sich selbst für unentbehrlich, großartig und überlegen zu halten. Die Kriegskosten dafür sind nicht unerheblich – Schlaflosigkeit, Perfektionismus, Krankheit, Einsamkeit. Es gibt aber auch den gegenteiligen Wahn der Drückebergerei, sich selbst für hilflos, überbedürftig, gering und nicht beachtenswert zu halten. Aber am weitesten verbreitet ist die eher versteckte Spielart des Größenwahns, der von sich sagt: »Ich sollte eigentlich die/der Beste sein, aber ich schaffe es nicht. Nichts gelingt mir perfekt. Ich schufte und kämpfe und ernte nur Gleichgültigkeit und Undankbarkeit.« Dieser Kampf macht mutlos und verzweifelt. Ein Gefühl von Sinnlosigkeit kommt auf. Man realisiert mit Erschrecken, dass die Leiter, auf der man so angestrengt nach oben kletterte, an der falschen Wand angelehnt war, oder jedenfalls nicht an der eigenen.
Die unverwirklichten Projekte, das leere Kinderzimmer, die geplatzten Träume, die verpassten Chancen werfen ihre Schatten, und man realisiert nun, weiterrennen und wegschauen helfen nicht mehr. Ich muss etwas ändern. Plötzlich erkennt man, wie Meister Eckhart schrieb: »Es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.«
Zunächst einmal ist es der Zorn und die Wut über die eigene Blindheit und Anpassungssucht, die die Energie bereitstellen, eine eigene Richtung zu suchen. Gestattet man sich, die Wut auszudrücken und auszutoben, ist man nicht weit entfernt, die darunterliegende Trauer zu spüren, die unüberhörbar sagt: »Es ist Zeit, sich vom Alten zu verabschieden.« Abschiede schwemmen die je erlebten Abschiede nach oben und machen bange und ängstlich: Was wird sein? Wird sie je aufhören?
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