Lebe deine eigene Melodie
Trauer und Tränen spülen das tapfere Lächeln weg. Dem Schmerz ist nicht zu entfliehen. Wäre er nicht, es wäre nicht möglich, heiter und gelassen in den kommenden Jahren weiterzuleben. Man muss ihn wie das Scheitern, die Krankheit, das Glück, die Liebe annehmen. Sich nur die Sonnenseiten auszusuchen, ist schlicht unmöglich. Es gilt, alles zu nehmen, damit später wieder neue Energien und andere Gedanken auftauchen dürfen. Und doch: Wer am Ende ist, kann neu anfangen. Auch die Trauer ist endlich, irgendwann findet die Seele ein neues Zauberwort: »Es ist, wie es ist«. Gelingt es, sich nicht einzubunkern in seiner Trauer, führt der Weg langsam wieder in dieses Leben zurück. Niemand glaubt, dass nun alles neu wird, denn das Leben verteilt keine Wunschzettel, aber tief innen melden sich Überreste an Magie, die uns träumen lassen, es möge etwas Neues, Besonderes geschehen. Vielleicht ist es auch gut so, dass wir ein wenig unbelehrbar bleiben, um zu hoffen, dass das geschieht, was Hilde Domin so schön sagte: »Die Welt hochwerfen, dass der Wind hindurchfegt.«
Was jetzt ansteht, ist die bewusste Entscheidung, unter all den Lebensweisen die eigene zu wählen, im Wissen, dass das alte Leben immer noch der Dünger ist, aus dem das neue Leben sprießt. Da helfen weder Selbstmitleid, Selbstverleugnung, noch Resignation, denn wir ahnen bereits, dass dieser Abschied, so schmerzhaft er sich anfühlt, nicht dazu dient,
uns zu zerstören, sondern um unsere Sinne für neue Räume zu wecken: sich dorthin zu wünschen, wo man ist; sich nach der zu sehnen, die man ist; wahrzunehmen, wie man bei sich ist. Das ist die Entscheidung, die den Weg unseres erwachsenen Alters in einen Königsweg verwandelt.
Den Körper bewohnen
»Ein Jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde«, lehrt der Prediger Salomo. Auch unser Körper hat seine Zeit. Lange übten wir, uns auf unsere Kopfsteuerung zu verlassen, die vor allem solche Informationen durchsickern ließ, die uns besser funktionieren halfen. Nun haben sich unsere Sinne gewandelt, sie sind feinspüriger, differenzierter geworden, sie loten mehr aus, was uns bekommt. Wie unser Gesicht haben sie deutlichere, prägnantere Konturen angenommen. Das Drängen, die rasch geweckte Lust hat nachgelassen, die Rhythmen des Genießens sind langsamer und tiefer. Man plagt sich nicht mehr mit verbissenem Körpertraining, sondern genießt andächtiger das Wunder der Sinne, die unsere Körperlichkeit und unsere Seele weiten und bereichern. Durchlässigkeit nenne ich jenen Zustand der Transparenz, in dem die Liebe zum Körper nicht unbedingt an sexuelle Bravourakte und erotischen Fleiß gebunden ist. Die Überhöhung von Lüsten, Kitzel und Spannungsabfuhr sind nicht mehr das ausschließliche Vehikel, um sich zu spüren oder intensiver zu leben. Vielleicht eines unter anderen und sicher besser als überhaupt nichts.
Jenseits der Lebensmitte ist die Schwelle, an der wir die Krücken einseitiger Rationalität fallen lassen und uns davonstehlen, um Lust auch zu genießen, wenn sie nicht als sexuelle Norm und Erwartung etikettiert ist. Zwanghafte Unterordnung unter Trends, die Wellness und Fitness als Zugang zur Sinnlichkeit anpreisen, sind uns suspekt, weil wir unseren eigenen Fantasien, Rhythmen und Gefühlen trauen. Wir sind also doppelt motiviert, auf Dinge zu verzichten, die nichts mehr für uns sind. Wir durchschauen hohles und sinnloses
Amüsieren als das, was es ist. Unser Begehren ist nicht mehr darauf aus, mit Reizen der knackigen Körperlichkeit andere gierig zu machen, weil wir das Bett unserer Sehnsucht nicht mehr verwechseln. Es geht nicht mehr darum, Lust zu haben oder Liebe zu machen, sondern um die sanfte Berührbarkeit, für das, was entsteht und sich entfalten will.
Eine Frau beschreibt diesen Wandel als Vertiefung: »Ich wundere mich, dass ich immer noch dasselbe tue wie vor zehn Jahren, nur ohne Angst und Druck. Wenn ich heute Lust empfinde, bin ich es, die begehrt. Es geht von mir aus und gehört mir. Was ich früher aus Anpassung oder Gefallsucht tat, fülle ich heute mit meinem eigenen Leben.« Frauen in dieser Epoche werden selektiver, mehr verankert im eigenen Rhythmus, nicht mehr so getrieben vom Aktionismus und dem Gefallenwollen um jeden Preis.
So inspirierend, faszinierend Bücher und intellektuelle Erkenntnisse sind und ihren Platz oben in der Agenda haben, verblassen auch sie neben den Freuden und Wonnen, die ein mittelalter
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