Lebe deine eigene Melodie
weglassen will. Die Berührungen werden behutsamer, unvoreingenommener, weniger zupackend. Es geht nicht mehr darum, möglichst viel zu verschlingen und anzuhäufen, sondern um
den Sinn für Grenzen, Eigenmaß und Unterschiede. Wir beschränken und schützen uns, nicht im Sinne von Askese oder Beschneidung, sondern weil uns mehr daran liegt, tiefer und aufmerksamer uns selbst und anderen zu begegnen.
Die Wahrnehmung wird offener, weil sie nicht mehr überlagert ist von selbstbezogener Erfolgs- und Leistungsmotivation. Die Energien, die vorher gebunden waren durch Anpassungsbereitschaft, Beschäftigung mit dem Eindruck auf andere, Zwang, sich zu beweisen und Bedürfnis nach sozialem Applaus, werden allmählich frei und schaffen Raum für neue Offenheit und »Durchlässigkeit für das Wesentliche« (Wiederkehr 1999).
Die Auflösung alter Orientierungen zeigt sich auf unterschiedliche Weise, die mit der persönlichen Ausstattung und Lebensgeschichte zusammenhängen. Für die einen ist diese Phase die Zeit der Ernte, der Reife und der Erfüllung, in der es um die Besitznahme und den klugen Einsatz erworbenen Wissens geht. Manche fühlen die bisher ungelebte Kraft ihrer Rebellion, die sich gegen Anpassung und einseitige Rollenzuweisung wehrt, während sich andere an eingeschliffenen Abläufen festklammern oder den resignierten Rückzug in vorzeitiges Altern antreten. Gemeinsamkeit dieser individuellen Geschichten ist die gefühlte oder gefürchtete Erkenntnis, dass Wachstum nicht mehr in der alten Kraft nach vorn drängen kann, sondern in die Tiefe gelenkt und an Dichte gewinnen soll.
Damit ist das junge Alter zugleich die Zeit, die durch das Verlangsamen der Rhythmen das tiefe Genießen möglich macht. Wir genießen noch alles, aber eben anders als früher, weil nichts mehr selbstverständlich ist. Genuss ist immer der Augenblick, wäre er unbegrenzt, so wäre er kein Genuss.
In den Jahren bekommt unser Leben deutlichere Konturen. Erfolge, Bewältigtes, Überstandenes, Fehlgriffe,
Nicht-Gelungenes, Nicht-Erreichtes, unfair Erlittenes und Selbstverschuldetes zeigen die Grenzen und die Doppelgesichtigkeit unseres persönlichen Geschicks. In diesen Balanceakten zwischen Gelingen und Misslingen entwickelt sich unser Schicksal, seine Erfüllung oder sein Scheitern. Wir erlangen Kenntnis von den Rhythmen und Gesetzen, die unser Schicksal bestimmen, die zu schlichten Einsichten führen: »Nicht alles Unglück kommt, um uns zu schaden.« »Nichts ist für immer.« »Auch das geht vorbei.« Wir haben uns in einer Nische der Wirklichkeit eingenistet, die uns selbst gehört. Wir finden den Mut, das Dumme beim Namen zu nennen, weil wir spüren, jetzt ist die Zeit, sich für Wesentliches und Erkanntes einzusetzen: sich mit Leib und Seele einer Sache hinzugeben, in einer Aufgabe aufzugehen, und zu entscheiden, wer oder wie wir sein wollen.
Noch ist die Zeit nicht knapp, aber zum Verschwenden ist sie zu kostbar. Die Tatsache, dass wir heute ein gesegnetes Alter von 80, 90 Jahren erreichen können, ist ein Geschenk des Fortschritts, das wir dankbar annehmen und mit Sorgfalt leben.
Ich werde einige Schlüsselqualifikationen herauskristallisieren, die für diese Lebensetappe wesentlich sind. Im Zentrum steht die Beziehung, die wir zu uns selbst haben, denn von ihr hängt es ab, wie eigensinnig, entscheidungsfreudig, mutig, schöpferisch und gelassen wir diese Lebensetappe bewältigen. Wir haben die Wahl, ob wir uns »unser« Leben zurückerobern und die werden, die wir sind, oder ob wir in den Sümpfen von unbewussten, unreflektierten Verlusten, Verfall, Verletzungen und Vorwürfen versinken. Öffnen wir uns für die Geschenke, die diese Zeit bereithält. Woher sollten wir sonst die Kraft nehmen für unseren Weg?
Im Aufspüren von Erfahrungen, Entdeckungen und Wahrnehmungen, wurde mir immer deutlicher, dass dieses
Buch keine starre Gliederung in Ober- und Unterkapitel verträgt. Es war eine Entdeckungsreise, die fernab von Handbüchern und Ratgebern, weit entfernt vom Funktionalismus ein Unterwegssein bedeutet, dessen Merkmal der Wandel ist. Deswegen geht ein Kapitel in das nächste über, weil dieses Vorgehen eher dem entspricht, was in uns vorgeht, wenn wir älter werden. Die Fähigkeit zur Verwunderung, zum Staunen, zum Wandel, zur eigenen Melodie lässt sich nicht in sauber gegliederte Abschnitte einteilen. Stattdessen gönnen wir uns Zeit zum Unterwegssein, zum Abschweifen, zum Assoziieren, Träumen und Nachdenken, um
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