Lebe die Liebe
wenige Gelegenheiten erinnern, bei denen meine Mutter die Beherrschung verloren hat«, sagte er leise, mehr zu sich selbst. »Einmal, ich war zufällig im Krankenhaus, als einer ihrer Patienten starb. Bis dahin hatte ich immer gedacht, sie würde alles streng beruflich sehen und ihre Arbeit mit kühler Gelassenheit machen. Da aber wurde mir klar, dass sie zu Hause nur nicht über ihre Berufsprobleme sprechen wollte. Ja, und dann verlor sie noch einmal völlig die Fassung, als Serena entführt worden war.«
Diana sah Caine an, dass ihm das heute noch nahe ging. Sie schloss ihre Finger um seine Hand und drückte sie mitfühlend. »Das muss für euch alle die Hölle gewesen sein. Dieses stundenlange Warten, die Ungewissheit …«
Caine sah sie an und lächelte, dankbar für ihr Verständnis. »Ja, und dann ist da noch Alan«, fuhr er fort. »Er ähnelt eher unserer Mutter – sehr ruhig, sehr geduldig. Wenn er allerdings einmal außer sich gerät, schlägt das ein wie eine Bombe, weil keiner es von ihm erwartet.«
Diana kostete den Wein und sah Caine über den Rand ihres Glases hinweg an. »Hast du dich oft mit ihm gezankt, als ihr noch Kinder wart?«
»Sicher, mehr als mit Serena, obwohl sie in ihrem Temperament mehr mir gleicht. Außerdem hat sie einen höllischen rechten Haken.«
»Willst du damit sagen, dass ihr beide miteinander geboxt habt?«, fragte Diana verblüfft.
Caine lächelte. »Manchmal hätte ich es wirklich gern getan, und dann hätte sie es eigentlich auch verdient gehabt. Nein, keine Angst«, fügte er hinzu, als er Dianas entsetztes Gesicht bemerkte, »wir haben unsere Kämpfe nie mit den Fäusten ausgetragen. Immerhin ist sie fast vier Jahre jünger als ich und auch kleiner und zierlicher. Sie war wild wie ein Junge, und erst als sie so etwa vierzehn war, habe ich zum ersten Mal zu meiner großen Überraschung festgestellt, dass sie ja wirklich ein Mädchen ist.«
Aus seinen Schilderungen war ganz leicht zu entnehmen, wie sehr Caine seine Familie liebte. Es gab Diana einen Stich, wenn sie daran dachte, wie glücklich seine Kindheit und Jugend doch verlaufen waren. »Du hast eine glückliche Kindheit gehabt, nicht wahr?«, sprach sie ihre Gedanken aus. »Zuerst war ich eifersüchtig darauf, als ich sah, wie liebevoll du und Serena miteinander umgingt. Weißt du, es war ganz seltsam, als ich an meinem letzten Tag in Atlantic City zu Justin ging und mit ihm sprach. Je wütender ich wurde, umso mehr schien die Distanz zwischen uns zu schwinden. Als dann meine Wut abgeflaut war, gab es nichts mehr, was zwischen uns stand.« Sie sah ihn an und schmunzelte. »Auf dich war ich ebenfalls wütend, weil ich im Grunde genau spürte, dass du recht hattest.« So viel Ehrlichkeit war ihr neu. »Allmählich freue ich mich darauf, wenn wir uns einmal als Gegner im Gerichtssaal gegenüberstehen«, konnte sie nun beruhigt sagen.
»Seltsam, das hab ich mir vorhin auch überlegt. Das wird mit Sicherheit ein interessanter Kampf.«
Der Ober brachte das Essen und schenkte noch einmal Wein nach. »Schmeckt köstlich«, sagte Diana und lehnte sich zurück.
6. K APITEL
Nachdem sich Diana einen Abend lang in die Akte von Chad Rutledge eingelesen hatte, war sie nicht mehr sicher, ob Caine ihr mit diesem Fall wirklich einen Gefallen getan hatte.
Der Junge hatte seine Lage dadurch noch verschlechtert, dass er bei seiner Festnahme Widerstand leistete. Aus der Akte ging hervor, dass er einen der Beamten sogar geohrfeigt hatte. Chad leugnete beharrlich die Vergewaltigung und erklärte, dass er mit Beth Howard, dem angeblichen Opfer, schon seit einem halben Jahr intim befreundet gewesen sei. Beth dagegen hatte das abgestritten und erklärt, sie seien nur lose befreundet gewesen.
Noch bevor der Bericht des Arztes einen Sexualverkehr bestätigte, hatte Chad bereits zugegeben, dass er am Abend der Tat mit Beth geschlafen hatte. Als Beth von ihrer Mutter zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurde, war das Mädchen verletzt gewesen und beinahe hysterisch geworden.
Seufzend schloss Diana die Akte und strich sich über die Stirn. Sie hatte sich ihre Meinung gebildet und wartete jetzt darauf, dass man Chad in das kleine Besprechungszimmer brachte. Diana blickte auf die schmucklosen gekalkten Wände. Der Samstagmorgen mit Caine schien meilenweit entfernt zu sein.
Die schwere Eisentür mit dem eingelassenen kleinen Fenster wurde geöffnet, und zum ersten Mal stand Chad Rutledge Diana gegenüber.
»Ich warte draußen vor
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