Leben im Käfig (German Edition)
diesen Gedankenspielen kam die Hoffnung, dass sie sich versöhnen konnten. Im nächsten Moment war er traurig, fühlte sich allein gelassen und verletzt.
Konnte man aufgrund eines einzigen Vorfalls so widersprüchlich empfinden? Nein. Bescheuert.
Dass bereits die Fahrkarte für das Wochenende auf seinem Schreibtisch lag, der schwarze Druck spöttisch wie die Buchstaben eines Haftbefehls, machte es nicht besser. Sascha wollte nicht fahren. Nicht unter diesen Umständen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, gar nicht.
In den vergangenen Monaten hatte er sich davon überzeugt, dass er gut ohne seine Eltern zurechtkam. Daran war nichts gelogen – und gleichzeitig alles. Seine Tante gab sich Mühe und war ein richtiger Kumpel. In der Schule kam er abgesehen von ein paar Querschlägern gut zurecht und selbst Fabian und Sina waren auf ihre Weise süß, wenn auch manchmal anstrengend. Aber Andreas war sein eigentlicher Anker in Hamburg.
Sehnsüchtig sah Sascha aus dem Fenster. Er konnte die weiße Fassade der Winterfeld-Villa hinter dem Buschwerk erkennen, hasste es, nicht zu wissen, woran er war. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Es war lange her, dass sie sich drei Tage lang nicht gesehen hatten. Auf einmal hatte er das Bedürfnis, sich zu krümmen wie damals, als er mit einem entzündeten Blinddarm im Bett lag.
„Ich gehe nach oben“, sagte er zu niemandem im Speziellen.
Schlaff und auf eine mentale Weise erschöpft raffte Sascha seine Sachen zusammen. Achtlos bog er die Lektüre halb durch und schob sie in die hintere Tasche seiner Jeans. Ihm war nach Schokolade zumute. Schokolade, Waffeln mit heißen Himbeeren und Schlagsahne, dazu ein Döner, eine Flasche Bier und Vanillepudding. Gleichzeitig. Was immer auch schief ging, Essen war gut für die Seele.
Sascha war bereits auf halbem Weg in sein Zimmer, als ihn das melodische Läuten der Glocke innehalten ließ. Noch immer hatte er sich nicht an den sanften Singsang gewöhnt, aber was wollte man im Haus eines musikalischen Paares auch anderes erwarten?
Er hatte keine Lust, die Tür zu öffnen. Nur würden weder Fabian noch Sina in ihrem Zimmer sich von ihrer Serie beziehungsweise von ihrem Hörspiel trennen. Tanja war beim Einkaufen. Es blieb an ihm hängen. Gereizt atmete Sascha aus, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und wieder nach unten ging. Er war reichlich überrascht, als er die Tür aufriss und die Haushälterin der von Winterfelds auf der Schwelle stehen sah. Sie wirkte nervös, ungleich blasser als bei ihrer letzten, unangenehmen Begegnung.
„Ja?“
Sascha sah keinen Grund, freundlich zu sein. Er hatte nicht vergessen, wie es sich angefühlt hatte, von Ivana abgewimmelt zu werden. Obwohl, wenn er fair war, konnte sie mit Sicherheit am wenigsten dafür. Nur was wollte sie hier?
Die Ukrainerin knetete nervös ihre vom Spülmittel aufgesprungenen Hände: „Hallo. Ich ... es ist vielleicht etwas merkwürdig, aber ich denke, Andreas würde sich über Besuch freuen.“
Es klang, als hätte sie den Text auswendig gelernt. Sascha hatte das zwingende Bedürfnis, in den nachbarlichen Garten zu rennen und wütend nach Andreas zu brüllen. So ein feiger Hund. Schickte schon wieder Ivana vor. Was sollte das denn? Das letzte Mal, als Sascha am Spiegel vorbeigekommen war, hatte er noch kein Hampelmann-Kostüm getragen und das wollte er in naher Zukunft nicht ändern.
„Merkwürdig?“ Er lachte bellend und kein bisschen fröhlich. „Bestellen Sie Andreas schöne Grüße. Er kann mich mal. Und wenn er etwas von mir will, soll er sich selbst melden.“
„Das wird er nicht tun“, reckte Ivana das Kinn. Etwas Bittendes lag in ihrem Blick: „Es geht ihm nicht gut. Er könnte wirklich einen Freund gebrauchen. So allein wie er ist.“
„Was soll das heißen, es geht ihm nicht gut?“
In seinem Innenohr hörte Sascha schon fast das Klimpern der Narrenkappe, aber er musste diese Frage stellen. Sie entsprang nicht seinem Verstand, sondern der Leere in seiner Brust.
„Er wird das vielleicht lieber selbst erzählen“, mutmaßte sie verlegen. „Ich sollte gar nicht hier sein. Aber ich hätte nicht eigenmächtig so gehandelt, wenn es nicht wichtig wäre. Bitte?“
Lange Sekunden starrte Sascha die fast fremde Frau an. Von hinten näherte sich eine Woge der Sorge und wusch über seinen Schultern hinweg seinen Ärger und vor allen Dingen seine Verletzung beiseite; zumindest für einen Moment. Eigenmächtig.
Wusste Andreas nicht, dass Ivana hier war? Oder log
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