Leben im Käfig (German Edition)
Schmerz genommen, aber die Angst brachte ihn fast um. Sie warnte ihn vor, dass es etwas unangenehm werden könne, da es nicht mehr viel Zahn gab, an dem sie ansetzen konnte, um ihn zu entfernen.
Die medizinischen Anweisungen, die auf ihn einprasselten, weckten den Wunsch zu schreien: „Absaugen. Einmal die Zunge unten halten bitte. Den Mund weit öffnen. Danke. Schmaler Flohr. Wurzelheber bitte.“
Es fühlte sich an, als würden sie ihm das Zahnfleisch von den Knochen schneiden und ihm den Kiefer brechen. Mindestens. Dazu das Geräusch der Fräse, das sich durch seinen Kopf vibrierte.
Als sie endlich fertig waren, konnte Andreas nicht aufstehen. Seine Beine trugen ihn nicht mehr. Gleichzeitig wollte er rennen. Sein letztes bisschen Selbstbeherrschung ging zugrunde, als die Ärztin ihm behutsam sagte, dass er wiederkommen musste, um die mit Antibiotika getränkten Tamponaden aus der Wunde zu entfernen. Sein Mund stimmte einem neuen Termin zu, während sein Verstand innerlich vor die Wand seines Gehirns rannte.
Seine Zahnärztin blieb an seiner Seite sitzen, sprach von Blutpfropfen, von Schmerzmitteln, davon, dass er die Wange nicht mehr kühlen sollte und dass er sich sofort vorstellen musste, falls er Fieber bekam. Keine feste Nahrung, aber auf jeden Fall essen. Suppe. Lebensmittel ohne Säure oder scharfe Gewürze. Möglichst wenig Milchprodukte. Viel trinken. Keinen Alkohol. Es wäre effektiver gewesen, wenn sie es ihm aufgeschrieben hätte.
Die Welt existierte nicht mehr. Kaum, dass er ihren Segen hatte, schoss er wie ein Derwisch aus dem Behandlungszimmer. Jemand rief ihm eine Frage hinterher, die er nicht verstand. Von irrationaler Todesangst getrieben raste er zum Taxistand und sprang in den erstbesten Wagen.
Das einzig Gute, was bei dieser Odyssee herauskam, war wohl, dass er auf dem Rückweg keine Panikattacke hatte. Dazu war sein geschundener Körper, der das Zittern nicht einstellen konnte, nicht mehr in der Lage.
Andreas hatte es geschafft, aber er konnte sich nicht darüber freuen. Dazu ging es ihm viel zu schlecht. Denn zu dem Nachhall der Schmerzen, zu dem Horror der Behandlung kam das Gefühl einer Einsamkeit, für die kein Wort mächtig genug war.
Kapitel 28
Seite 25, letzter Absatz.
Wo war die Randnotiz? Wo der Verweis zur Interpretationshilfe? Und wo sein Kugelschreiber? Er wusste es nicht. Keine Interpretationshilfe der Welt konnte helfen, wenn man die letzten zehn Seiten nicht richtig gelesen, geschweige denn verstanden hatte.
Gereizt zog Sascha die Füße auf das Sofa. Er senkte die Lektüre und schielte in Richtung Fernseher, wo eine langweilige Comic-Serie lief. Schlecht gezeichnet, Handlung nicht vorhanden, doof, überflüssig. Früher waren die Comics besser. Aber Fabian wollte den Streifen sehen und es gab keinen Grund, ihn deswegen anzufahren. Immerhin war Sascha nicht gezwungen, seine Lektüre im Wohnzimmer zu lesen.
Ihm war nicht nach der Einsamkeit seines eigenen Zimmers zumute.
Es war kein guter Tag für ihn gewesen. Er war zu spät aus dem Bett gefallen und mit hängender Zunge in der Schule angekommen. Nur um festzustellen, dass die ersten beiden Unterrichtsstunden ausfielen. Hatte er Lust, eine kleine Ewigkeit – müde, ohne Kaffee im Blut, nicht ausgeschlafen und schlecht gelaunt – in der Aula zu sitzen? Für zwei Stunden Deutsch bei der Schreckschraube, noch einmal eine Freistunde und hinterher blöden Füllunterricht? Nein. Also war er wieder in den Bus gestiegen und nach Hause gefahren.
Es war eh nicht von Bedeutung, ob er im Unterricht war oder nicht. Er bekam zur Zeit nichts mit und das erschreckte ihn. Dienstag hatte Andreas ihn abserviert, heute war Donnerstag. Und es fühlte sich immer noch falsch an. Was war mit ihm los? Verletzter Stolz? Vermutlich. Aber es war mehr als das. Ein Schwarzes Loch saß auf Höhe seines Solar Plexus und schien das umliegende Gewebe anzugreifen. Stück für Stück, Zelle für Zelle. Es war, als würde er verschluckt. Er oder das, was seine Essenz, sein Selbst ausmachte.
Sascha war solche Empfindungen nicht gewohnt. Auch dass seine Laune unstet schwankte, kannte er nicht von sich.
Manchmal wollte er wütend nach drüben stürzen und Andreas zur Rede stellen, ihm sagen, dass niemand ihn aus seinem Leben warf. Dass er diesen Schritt stets selbst tat. Andreas wollte ihn loswerden? Das funktionierte anders herum auch. Besser sogar.
Dann wieder sehnte Sascha sich nach einem Gespräch, nach einer Erklärung und mit
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