Leben im Käfig (German Edition)
nachzudenken. Zu viel, was er mit Gewalt beiseiteschieben musste.
Zum Beispiel das Gefühl der milden Herbstluft auf seinem Gesicht, als er vom Taxi in die Klinik ging. Die Passanten auf den Bürgersteigen auf der Rückfahrt, Einkaufstaschen unter dem Arm, einige allein, andere in kleinen Gruppen und miteinander ins Gespräch vertieft. Er wollte es nicht in sich wach rufen. Es weckte Überlegungen, die ihm unheimlich waren.
Der Vorfall mit seinen Eltern gab ihm Rätsel auf. Seine Mutter war fast das ganze Wochenende über daheimgeblieben und hatte von Zeit zu Zeit nach ihm gesehen. Geredet hatten sie kaum. Aber sie hatte es auf sich genommen, ihn an Ivanas Stelle mit Tee und leicht zu kauernder Nahrung zu versorgen. Ihren Kartoffelbrei hatte er ins Klo kippen müssen, denn er war versalzen gewesen. Diese Vision von Häuslichkeit konnte jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass er unfreiwillig Zeuge von mehr als einem Streit seiner Eltern wurde. Wenn er nicht irrte, ging der Disput so weit, dass sein Vater seine Nächte im Gästezimmer verbrachte.
Vielleicht störte er sich nur an der angespannten Stimmung unter ihrem Dach, aber Andreas konnte nicht über die lautstarken Wortwechsel nachdenken, ohne dass er unruhig wurde. Also ließ er es lieber bleiben.
Sascha war ein ganz anderes Thema. In ihn verliebt zu sein, war für Andreas eine Achterbahnfahrt der Emotionen. Manchmal stürzte er kopfüber in die tiefsten Abgründe seiner Selbst, dann wieder flog er mit ausgebreiteten Schwingen über den Wolken und fühlte sich frei wie selten zuvor.
Sie waren zusammen und damit war sein innigster Wunsch in Erfüllung gegangen. Mehr konnte man nicht erwarten, oder? Die Außenwelt hatte ihm eine Kerze in ihr beschlagenes Fenster gestellt, spendete ihm Licht auf seinen Irrwegen durch den Sumpf seiner Existenz. Das war ein Geschenk, kein Zweifel.
Allerdings kam es Andreas vor, als wäre es ein Geschenk, das noch zusammengebaut werden musste und dem keine Gebrauchsanweisung beigelegen hatte.
Während seine restlichen Truppen von seinem Gegner gejagt und in der Luft zerfetzt wurden, dachte er an das eigenartige Telefonat vom Vortag zurück. Oder überhaupt an die Frage, wie man sich richtig verhielt. Am liebsten hätte er Sascha schon am Freitagabend angerufen, sich aber nicht getraut.
Noch immer hatte er Angst davor, zu gierig zu erscheinen und sich in seiner Sehnsucht zu blamieren. Ihm fehlte die Erfahrung auf diesem Gebiet und er wollte nichts falsch machen. Sein kostbarstes Geschenk nicht zerstören. Und obwohl es ihm selbst nicht bewusst war, fehlte es ihm an Vertrauen.
Als Sascha sich Samstag am Mittag meldete, hatte es sich angefühlt, als wäre Andreas nach einem kalten Tag genüsslich in die heiße Badewanne gerutscht. Wärme, allein von dem Klang einer vertrauten Stimme, doch es hatte nicht funktioniert.
Sie hatten nicht miteinander reden können und Sascha war kalt und distanziert gewesen. So kalt, dass Andreas einen halben Tag lang fürchtete, er hätte ihn schon wieder verloren. Doch glücklicherweise wurde er noch in derselben Nacht erlöst.
Auch jetzt schwankte er noch zwischen einem Gefühl inniger Zuneigung, Erleichterung und aufrichtiger Sorge hin und her.
Sascha war fertig gewesen, als er sich meldete. Betrunken, traurig und Andreas hatte sich hinterher gehasst. Weil er nicht wie jeder andere Mensch in den Zug steigen und ihn holen fahren konnte. Vermutlich hätte er es auch dann nicht getan, wenn er es gekonnt hätte, aber die Möglichkeit erst gar nicht zu haben, war schlimm für ihn gewesen.
Und jetzt wartete er. Darauf, dass Sascha nach Hause kam.
Als es eine gute Stunde später unten klingelte, stand er nicht auf. Es war zu früh. Vielleicht war es ein Nachbar – ein anderer Nachbar -, der etwas mit seinen Eltern zu besprechen hatte oder sein Vater hatte den Schlüssel vergessen. Er lauschte, hörte nur leises Murmeln und spürte sein Herz einen Schlag lang aussetzen, als jemand die Treppe hoch kam.
Das Klopfen konnte man nur als Provisorium bezeichnen, denn ohne, dass Andreas etwas erwidern konnte, flog die Tür auf.
Es war Sascha, mit dem Rucksack über der Schulter und einem schelmischen Lächeln im Gesicht, das seine Augen nicht erreichte. Überrascht richtete Andreas sich auf, wollte auf ihn zugehen und wusste nicht, ob das richtig war. Stattdessen lehnte er sich an seinen Schreibtisch und fraß seinen Freund mit hungrigen Blicken auf.
Komm her, flehte er innerlich. Zeig mir, wie wir
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