Leben im Käfig (German Edition)
zerstörte Sascha den Moment mit diesen Fragen? Ausgerechnet, wenn Andreas ihm zeigen wollte, wie verliebt er war? Wenn er auch endlich einmal etwas geben wollte? Er musste sich nicht erklären, verdammt.
Niemand hatte ein Recht, ihm in den Kopf zu sehen. Auch sein Freund nicht.
Er verlangte ja auch von keinem anderen, dass er sich ihm die Untiefen seiner Seele offenbarte. Außerdem wollte niemand wirklich wissen, was in ihm vor sich ging, wenn die Welt über ihm einstürzte und er nur noch rennen wollte.
Schon in der Vergangenheit hatte man ihn gefragt, warum er sich so verhielte, warum er das Bedürfnis hatte, vor einer nicht existenten Gefahr davonzulaufen. Er hatte sich nie verständlich machen können. Und es war stets leicht gewesen, seine Eltern von diesem Thema abzubringen.
Denn eigentlich wollten sie gar nicht wissen, was mit ihm los war. Er war nicht der Sohn, den sie sich gewünscht hatten. Er war der Sohn, mit dem sie wohl oder übel leben mussten. Komplikationen passten nicht in ihren Terminplan. War Sascha anders? Würde er verstehen, was Andreas nicht in Worte fassen konnte? Kaum.
„He, du kannst es mir sagen.“ Saschas Hand legte sich auf sein Knie und streichelte es. „Ich möchte nur wissen, womit ich es zu tun habe. Ich meine, ich weiß es eigentlich schon, aber ... das war gestern krass. Erst ging gar nichts und auf einmal stehst du auf und marschierst in die Klinik. Wie geht so etwas?“
Oh, das war der Teil, den Andreas am ehesten erklären konnte. Er wollte sagen: „Du hast mir Halt gegeben. Als ich mir sicher war, dass du nicht gehst, war es leichter.“
Aber das traute er sich nicht. Es klang so bedürftig und sein Stolz hatte in der letzten Zeit wahrlich genug gelitten.
„Wie genau, weiß ich nicht“, würgte Andreas. Er fühlte sich unwohl. „Aber es geht irgendwie. Wenn ich gerade erst Probleme hatte, gibt es hinterher manchmal so etwas wie ein Zeitfenster, in dem es auf einmal geht. Ich verstehe es auch nicht. Ich bin dann so verdammt müde, dass ich keine Nerven habe, um ...“
„.. in Panik zu geraten?“, vollendete Sascha den Satz für ihn.
Andreas zuckte zusammen. Er hasste es, wenn man das Kind beim Namen nannte. Seine Schwierigkeiten wurden dadurch real.
In dem Bemühen, das Gespräch schnell abzubrechen, klang seine Stimme hart wie Stahl: „Nenn es, wie du willst. Man kann es nicht ändern und zum Glück ist es ja vorbei.“
Sascha verzog den Mund, sah aus, als würde er am liebsten schweigen, murmelte jedoch nach einer Weile: „Aber das ist es nicht, oder? Vorbei? Hör mal, mach nicht dicht. Bitte? Ich will es doch nur verstehen. Ich ... ich würde dir gerne helfen. Ich meine, sauer werden hilft nicht.“
Deprimiert schloss Andreas die Augen. Er wollte nicht, dass man sah, dass ihm die Tränen kamen. Warum fiel ihm das nur so schwer? Gott, Sascha wollte helfen. Schon wieder. Dabei gab es nichts, was er tun konnte. Nicht wirklich. Nur da sein.
„Es tut mir leid“, flüsterte er fast unhörbar und entschied sich, einmal im Leben ehrlich zu sein. Er hatte lange auf jemanden gewartet, der ihm zuhörte und helfen wollte. Da wollte er es nicht versauen, nur weil er nicht die Kraft aufbrachte, aufrichtig zu sein. „Ich rede nicht gerne darüber. Es ist so schon blöd genug. Ich meine ...“ Er atmete aus und presste die Lider fest zusammen. Sein Magen kroch in seinen Hals und wollte nach draußen springen. „Es wird sich nichts mehr ändern. Im nächsten Sommer sind es zehn Jahre. Dann bin ich 20. Die Hälfte meines Lebens mit dieser Scheiße.“
„Es ist Agoraphobie, nicht wahr?“
Verbittert rieb Andreas sich über die Augen, fragte nicht, woher Sascha davon wusste. Er konnte es sich denken. Die Nachbarn redeten über ihn und nach dem Besuch in der Klinik war es jedem möglich, aus seinem Verhalten via Internet die richtigen Schlüsse zu ziehen.
„Agoraphobie mit Panikstörung“, betete er die Diagnose herunter. „Aber das darf man in diesem Haus nicht laut sagen. Offiziell bin ich nur ein bisschen exzentrisch. Ein von Winterfeld hat keinen Vogel. Jedenfalls keinen in dieser Größenordnung.“
Er lachte. Es klang, als würde eine Katze einen Fellball hervor würgen.
Es tat weh. Es gab keine Worte, die diesem Schmerz gerecht wurden. Zehn Jahre.
Als Sascha nach Minuten immer noch nicht geantwortet hatte, zwang er sich, ihn anzusehen: „Gehst du jetzt?“
Andreas kannte die Antwort, aber er wollte es hören. Musste es hören.
Sascha schürzte die
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