Leben im Käfig (German Edition)
Lippen und schüttelte den Kopf: „Warum sollte ich? Ich weiß es schon seit Wochen. Ich bin ja nicht doof. Aber ich frage mich.“ Unsicher hob er die Hand und strich Andreas über den Arm. Es fühlte sich an wie warmer Regen. „Warum tust du nichts dagegen? Man kann das doch behandeln und ...“
„Lass es gut sein!“, unterbrach Andreas ihn mit einem Winseln. „Ja, es gibt angeblich Behandlungen, aber das sind doch alles Quacksalber und Dummschwätzer. Man kann so etwas nicht heilen und schon gar nicht, wenn man es schon so lange hat. Ich werde nie normal sein. Selbst wenn meine Eltern es erlauben würden, dass ihr einziger Sohn in die Klapse geht, würde es nicht viel bringen. Vielleicht würde es ein bisschen besser werden, aber was bringt mir das? Gar nichts.“
„Wie kannst du so etwas sagen?“, erwiderte Sascha sichtlich entsetzt. In seinem Schreck ließ er jede Sensibilität fahren: „Du lebst hier wie ein Gefangener. Du kannst nichts machen. Jede Erleichterung wäre doch wertvoll. Und was soll das heißen, deine Eltern erlauben es nicht. Du bist erwachsen. Sie können dir nicht verbieten, dich behandeln zu lassen.“
„Du verstehst das nicht“, heulte Andreas auf.
Seine Stimme brach. Seine Kontrolle schwand. Er war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, was er in der nächsten Sekunde tun würde. Es fühlte sich entsetzlich an, machte ihm Angst, schüttelte ihn durch und verätzte ihn innerlich. Eilig hastete er vom Bett, brauchte plötzlich mehr Raum. Er schnappte nach Luft, bevor er sich zu Sascha umdrehte. Er war so verdammt voll. Voller Dinge, die er nie gesagt hatte, die er sich nie zu denken oder zu fühlen erlaubt hatte. Sie wollten ans Tageslicht. Jetzt. Er war auf einer Einbahnstraße und musste weiterfahren, wenn ihn der folgende Verkehr nicht überrollen sollte.
„Ich verliere alles, wenn ich mich mit meinen Eltern anlege“, stöhnte er und wunderte sich, dass er nicht schrie. „Ich verliere mein Zuhause und vermutlich auch mein Erbe. Ich brauche sie, verstehst du? Ich bin von ihnen abhängig. Selbst wenn es mir irgendwann ein bisschen besser geht, werde ich nie richtig arbeiten können. Ich brauche die Kohle meiner Familie. Und das hier ...“, er deutete um sich herum auf die Möbel und die Wände, „ist der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühle. Das hier ist mein Zuhause. Ich kann hier nicht weg.“
Sascha beobachtete ihn aus großen Augen. Seine Züge zeigten eine Mischung aus Faszination, Mitleid und Ekel, als würde er zusehen, wie sich jemand vor seinen Augen erbrach. Ein Vergleich, der bei genauerer Betrachtung sogar richtig war.
„Denkst du, mir macht das Spaß? Hier festzusitzen? Nie nach draußen gehen zu können? Ich möchte auch die neuesten Filme im Kino sehen, statt auf die DVDs zu warten. Ich möchte zu Konzerten gehen und auf Partys. Ich bin vermutlich der einzige Hamburger, der die Reeperbahn und Hagenbecks Tierpark nicht kennt. Ich weiß weder, in welcher Stadt ich lebe, noch in welchem Land.
Einmal möchte ich selber einkaufen können. Nur ein einziges Mal. Ich will in den Urlaub fahren und keine Angst davor haben müssen, irgendwann einen Blinddarmdurchbruch zu haben und es nicht bis ins Krankenhaus zu schaffen. Ich will mich in Kneipen besaufen und hinterher die Clubs unsicher machen. Ich will auf Flohmärkten nach Limited Editions suchen. Ich will auf die Uni gehen wie jeder andere auch. Oder von mir aus eine Lehre machen. Scheißegal.
Ich kann es eh nicht. Ich möchte ... ich möchte mit dir zur Schule gehen können und deine Freunde treffen. Aber ich habe nur diesen Käfig und irgendwie die Hoffnung, es mir hier so gemütlich wie möglich zu machen. Weißt du, wie beschissen sich das anfühlt, wenn du einfach nur nach nebenan gehen willst, um deinem Freund zum Führerschein zu gratulieren? Und du kannst es nicht, weil du nach ein paar Schritten total durchdrehst? Weil du glaubst, dass du sterben musst?“
Abrupt wandte Andreas sich ab.
Sein Blick fiel auf die Postkarten über seinem Schreibtisch und er ging darauf zu, strich mit den Fingern darüber, während sein lange verborgenes Fernweh aus ihm hervor brach: „Ich möchte so gerne mal wegfahren. Nur ein einziges Mal. Nach Moskau. Und nach Ägypten. In die Türkei. Ich will die Ausgrabungen in Südamerika sehen und Mardi Gras in New Orleans. Australien. Neuseeland. Südafrika. Oder von mir aus nach Bayern oder ins Sauerland. Ganz egal. Nur einmal wegfahren und etwas anderes sehen. Irland.
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