Leben im Käfig (German Edition)
gemeldet. Stattdessen war er erneut unfreiwilliger Zeuge eines Streits zwischen seinen Eltern geworden, an dessen Ende sein Vater das Haus verließ und bis zum Morgen nicht zurückkam.
In dieser Nacht hatte Andreas gar nicht geschlafen, sondern sich die Zukunft seiner Familie in den finstersten Farben ausgemalt. Das Schlimme war, dass er beim besten Willen seinen eigenen Platz darin nicht finden konnte.
Und nun saß er hier auf dem Teppichboden, den Ivana letzte Woche erst aufgeschäumt hatte. Der gute Geist des Hauses war seit Montag krank. Aber vielleicht machte Ivana auch blau, weil sie das Theater im Hause von Winterfeld nicht mehr ertragen konnte.
Andreas konnte sie zu gut verstehen.
Konnte man sich von seiner eigenen Familie krankschreiben lassen? Eine verlockende Idee.
Er hielt es nicht mehr aus. Er konnte spüren, dass die Probleme seiner Eltern ihn beeinflussten, ja, krankmachten. Und es gab kein Entkommen.
Wie lange war es her, dass er mit Sascha auf seinem Bett gelegen hatte? Ewig. Und es war kein guter Nachmittag gewesen. Die Ferien und Silvester schienen fern zu sein. Aber sie hatten etwas in Andreas hinterlassen, das ihn glauben machte, dass alles gut werden konnte. Früher oder später. Wenn man nicht allein auf verlorenem Posten kämpfte, wurde vieles reeller. Vorstellbarer.
Aber das war das Problem, nicht wahr? Just in diesem Moment fühlte Andreas sich sehr einsam.
Die Sicherheit, die Saschas Zuneigung ihm schenkte, sickerte allmählich aus seinem System. Wie ein Drogensüchtiger brauchte er seinen nächsten Schuss. Einen Anruf, eine Berührung, eine Mail, eine Stunde, die sie gemeinsam verbrachten. Das reichte ihm. Aber er wollte keinen Druck ausüben. Nicht, wenn Sascha bis über beide Ohren in Arbeit steckte.
Er seufzte. Das Zittern hatte nachgelassen. Wenigstens fühlte er sich jetzt etwas besser. Lautlos stand Andreas auf und blieb in der Mitte seines Zimmer stehen. Was sollte er mit der freien Zeit anfangen? Sich zuerst etwas zu essen besorgen. Danach konnte er weitersehen.
In die Küche zu gehen und sich mit Joghurt und einem Brötchen zu bewaffnen, fiel ihm unanständig leicht, wenn er bedachte, wie nervös ihn die Bibliothek vor zwanzig Minuten noch gemacht hatte. Aber vielleicht war es ja ein gutes Zeichen, dass er nicht für den Rest des Tages wie eine verschreckte Maus in seinem Zimmer hockte und das Erdgeschoss nicht betreten wollte.
In den folgenden Stunden machte Andreas es sich auf seinem bewährten Lieblingsplatz am Fenster bequem. Schlafen konnte und wollte er nicht. In einem Anfall kindlicher Spielsucht wickelte er sich in seine Bettdecke ein und polsterte die Fensterbank zu einem gemütlichen Nest aus.
Eine CD mit Rockmusik aus den Siebzigern schuf die passende Atmosphäre für die Lektüre von „American Gods“. Das blasse Winterlicht fiel in den Garten, der im Tauwasser des schmelzenden Schnees versank.
Gegen Mittag erwischte Andreas sich dabei, dass er vermehrt aus dem Fenster blickte. Ein wenig verschämt schielte er in Richtung des Nachbarhauses und hoffte, einen Blick auf Sascha zu erhaschen, wenn dieser nach Hause kam.
Als er dessen schwarze Jeansjacke – zu dünn für den Winter – endlich auftauchen sah, machte sein Herz trotz allen Schwermuts einen Hüpfer. Er liebte den gelassenen Gang seines Freundes. Die Art, wie er die Hände in die Hosentaschen stopfte, sodass seine Schultern nach vorne rollten. Andreas lächelte sehnsüchtig in sich hinein. Sascha war großartig. Sexy. Hinter der gut gelaunten, ein wenig abgebrühten Fassade sanft und freigiebig. Er war ...
Das Lächeln löste sich von Andreas' Zügen wie Eisbrocken, die von einem schmelzenden Gletscher brachen. Er musste schlucken.
Sascha kam nicht allein. Ihm folgte eine lachende und ausgesprochen hübsche Blondine, die ihren grauen Wintermantel wie ein königliches Gewand trug.
Mit leichtem Schritt ging sie mit Sascha in Richtung Haustür, nur um auf halber Strecke haltzumachen und nach den Schneeresten auf dem Vogelhäuschen zu greifen. Wild gestikulierend formte sie einen Ball und feuerte ihn auf Sascha, der offensichtlich amüsiert kehrt mache und zum Gegenangriff überging.
Es blieb nicht bei einem Geschoss. Erstarrt musste Andreas dabei zusehen, wie sein Freund und die Fremde nach und nach jeden Schneerest im Garten zusammenkratzten und sich gegenseitig zu treffen versuchten. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Eine halbe Stunde. Leichtherzig, gut gelaunt, sorglos.
Und als kein Schnee
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