Leben im Käfig (German Edition)
ihm einen intensiven Blick ein, den er nicht verstand. Mit einem Mal wirkte Sascha fast so nervös wie er selbst. Betont lässig kam Sascha auf ihn zu – nah, zum Greifen nah – und sagte mit einem hölzernen Lächeln: „Klasse Bude. Wirklich. Ich wette, deine Freunde reißen sich darum, hier eine Movie Night nach der anderen zu machen. Ich habe noch nie so viele DVDs auf einen Haufen außerhalb eines Ladens gesehen.“
„Welche Freunde?“, rutschte es Andreas heraus. Manchmal war seine Zunge schneller als sein Gehirn. Er bereute es sofort, als Sascha zu ihm herumfuhr und ihn mitleidig ansah. Rasch stand er auf und reckte das Kinn. „Okay, der Film. Willst du beide Versionen oder nur eine? Oder willst du dir sonst noch etwas leihen?“
„Eine Version reicht, denke ich“, murmelte Sascha schleppend.
Erneut traf Andreas ein intensiver Blick, unter dem er sich fast körperlich wand. Mit einem Mal wollte er allein sein, und zwar schnell. Lieblos riss er den Film vom Schreibtisch und reichte ihn an Sascha weiter. Die Spannung zwischen ihnen war greifbar, unangenehm. Die stummen, unbeantworteten Fragen, die Spekulationen fühlten sich an wie Nadelstiche.
„Danke, ich schaue ihn mir heute Abend an, glaube ich.“
„Lass dir ruhig Zeit“, brachte Andreas mühsam hervor. Seine Stimme war im Begriff zu brechen und er hasste es. „Findest du alleine hinaus?“
„Na klar“, lächelte Sascha bemüht. Mit schnellen Schritten näherte er sich der Zimmertür, zögerte und drehte sich noch einmal um: „Hey, wenn du Lust hast ... können wir uns ja mal zusammen was ansehen. Nur, wenn du willst, natürlich.“
Angesichts dieses Angebots brachte Andreas erst recht keinen Ton mehr heraus. Stumm nickte er, zwang sich zu einem verbissenen Grinsen und war froh, als Sascha die Tür hinter sich schloss.
Erst, als seine Schritte sich entfernten, atmete er geräuschvoll aus. Andreas hatte das Mitleid in den Augen des anderen Jungen erkannt. Und er verabscheute Mitleid, brauchte es nicht, wollte es nicht. Einen Videoabend aus Mitleid heraus brauchte er erst recht nicht. Das Problem war nur, dass er spürte, dass er es sich nicht leisten konnte, die ausgestreckte Hand auszuschlagen. Dafür streckte man ihm zu selten die Hand entgegen.
* * *
„Katja hat gerade angerufen“, krähte Sina und sprang wie ein Flummi auf Sascha zu, als er durch die Terrassentür das Haus betrat. „Ich soll dir sagen, dass er Philipp heißt. Wer ist das?“
„Niemand, den du kennst“, entgegnete ihr Cousin abwesend. Das kleine Mädchen öffnete und schloss den Mund wie ein Goldfisch, bevor es theatralisch die Schultern hob und davonhüpfte.
Die Hülle der DVD wog schwer in seinen Händen, als er langsam in Richtung seines Zimmers ging. Als er die Küche passierte, sah er Tanja durch die offene Tür an der Spüle stehen und mit einem verbrannten Topf vom Vorabend kämpfen. Er hielt inne.
Sascha fühlte sich eigenartig überladen. Diese Empfindung kannte er bisher nur aus der Schule, wenn er zwei Tage vor einem Test merkte, dass er die Latein-Vokabeln der letzten drei Monate auf einmal lernen musste. Sein Kopf war voll, die Gedanken flogen hektisch hin und her. Hinzu kam ein merkwürdiger Druck in seiner Brust; gepaart mit dem unguten Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Tanja fluchte verhalten und schleuderte den störrischen Topf in die Spüle, sodass das Wasser in alle Richtungen davonspritzte. Mit nassen Fingern fuhr sie sich über die Stirn und bemerkte dabei ihren Neffen, der nachdenklich im Türrahmen lehnte.
„Oh, wo kommst du denn her?“, fragte sie mit einem Nicken zu der DVD. „Warst du in der Videothek?“
„Nein“, entgegnete Sascha, fragte sich, ob seine Tante ein offenes Ohr für seine Überlegungen hatte. Endlich fasste er sich ein Herz und sagte: „Ich war bei Andreas.“ „Welcher Andr ... Oh, du meinst Andreas von nebenan? Andreas von Winterfeld?“ Verblüfft löste sie sich von der Spüle und setzte sich an den aus Kieferholz gefertigten Küchentisch.
„Genau.“ Noch einmal zögerte Sascha, doch dann nahm er gegenüber von Tanja Platz. „Ich hatte dir doch erzählt, dass wir zusammen zocken. Und er wollte mir einen Film leihen.“ Er tat sich schwer, Worte zu finden. Das war neu für ihn. Normalerweise fiel es ihm leicht, seine Gedanken in Worte zu fassen. Nur in diesem Fall ging es um mehr als rationale Überlegungen. Es ging um sein Bauchgefühl.
„Und? Das klingt, als stecke
Weitere Kostenlose Bücher