Leben im Käfig (German Edition)
geschafft, sich auf einen Lehrplan zu einigen. Insofern haben wir ein Problem, weil sich dieser Kurs bis zum Abitur mit den Aspekten der deutschen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte auseinandersetzt. Das haben Sie bereits hinter sich. Wirtschaftliche und politische Entwicklung fremder Kulturen haben wir dagegen schon im Vorjahr abgearbeitet und dieser Stoff fehlt Ihnen jetzt. Und, was machen wir da?“
Sascha schwirrte der Kopf. Wie, noch einmal Deutsches Kaiserreich, noch einmal Weimarer Republik, noch einmal Nationalsozialismus? Bitte nicht. Gerade den letzten Posten hatte er in seiner Schullaufbahn bestimmt drei Mal durchgearbeitet; in der Grausamkeit der Darstellung jeweils an die Klassenstufe angepasst.
„Keine Ahnung. Ich werde wohl sehen müssen, wie ich es auf die Reihe kriege, oder?“, erwiderte er unbehaglich. Der unergründliche Blick des Lehrers machte ihn nervös und das war seltsam. Lehrer machten ihn nie nervös. Nie.
„Das ist kein schlechter Ansatz, würde ich sagen“, nickte Herr Wallraff zackig. Er griff nach einem schweren Ordner, der neben ihm auf dem Tisch lag, und drückte ihn Sascha in die Hand: „Ich habe Ihnen das Unterrichtsmaterial zusammengestellt. Den Aufbau sämtlicher Unterrichtsstunden, Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Quellennachweise, Buchempfehlungen. Sie werden gut zu tun haben. Es sei denn, Sie haben Ihr Gedächtnis über den Sommer nicht entleert. Dann dürften Sie wenigstens in Sachen deutscher Geschichte die Nase vorn haben.“
„Danke“, murmelte Sascha. Der Ordner in seinem Arm schien Tonnen zu wiegen. Das sollte er alles durcharbeiten? Zusätzlich zu dem normalen Unterrichtsstoff? Na, da konnte er wirklich nur hoffen, dass aus dem anderen Themenbereich das meiste hängen geblieben war.
„Jederzeit. Es ist mir jedes Jahr ein Anliegen, dass meine Kurse den besten Notendurchschnitt an der Schule haben. Den möchte ich mir ja nicht verderben“, lächelte der Lehrer selbstgefällig, aber mit einem freundlichen Funkeln hinter seiner Brille. „Und wenn Sie Schwierigkeiten haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an mich. Ein Schulwechsel mitten im Abitur ist keine Kleinigkeit. Aber Sie sind ein pfiffiges Kerlchen. Sie bekommen das schon hin.“
Sprach's, schlug Sascha mit seiner Pranke von einer Hand auf die Schulter und wandte sich wieder seinen Büchern zu. Es sah so aus, als wäre er entlassen.
Draußen angekommen ruhte das Gewicht des Ordners immer noch schwer in seinem Arm. Vorsichtig schlug Sascha den Deckel auf und stöhnte lautlos, als er auf ein umfassendes Inhaltsverzeichnis traf. Der Berg aus Papier sprengte beinahe die Klammer. Da hatte er ja einiges vor sich.
Er wollte gerade in Richtung der Haupthalle gehen, als jemand seinen Namen rief. Überrascht blieb er stehen und sah sich suchend um. In dem Pulk aus Schülern auf den Gängen war schwer auszumachen, wer ihn angesprochen hatte.
„Hey, hier!“, schnippte jemand hinter ihm mit den Fingern. Als er sich umdrehte, stand das Mädchen vom Vortag vor ihm. Wie war noch einmal ihr Name gewesen? Isabell. Neben ihr drückte sich ein unscheinbarer Blonder herum, der den Eindruck machte, als hätte die Pubertät noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Himmel, Sascha hätte sich eher erschossen, als sich mit einer solchen Akne in der Schule sehen zu lassen.
„Hallo“, begrüßte er Isabell und kniete sich auf den Boden in dem Versuch, in seinem Rucksack Platz für den Geschichtsordner zu schaffen.
„Gut, dass ich dich treffe. Du hast nicht zufällig jetzt auch eine Freistunde, oder?“
Mit einer Hand fischte Sascha seinen Stundenplan aus seiner Gesäßtasche und sah nach: „Doch, habe ich.“
„Hervorragend“, trompetete Isabell. Ihr lautes Organ passte nicht zu ihrer zierlichen Gestalt. „Kommst du mit in die Cafeteria? Weil, also falls du es nicht gemerkt hast, wir sind im selben Mathekurs. Und ich bin eine Null in Mathe und Erbse ...“, der Blonde nickte ruckartig mit dem Kopf, „auch. Du aber nicht, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Erbarm dich unser, ja? Der alte Zeisig kann nicht erklären. Wir verstehen nur Bahnhof.“
„Wir bestechen dich auch. Mit Müsliriegeln und Kaffee“, versprach Erbse beflissen. „In der Cafeteria gibt es leider nichts Richtiges zu essen, aber besser als nichts.“
„Das braucht ihr nicht“, lachte Sascha. „Ich wäre ja wohl ein Arsch, wenn ich mich bezahlen lassen würde. Außerdem wer weiß, ob ich euch überhaupt irgendetwas erklären kann. Am
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