Leben im Käfig (German Edition)
weiß. Ich bin selbst schuld. Aiden wollte, dass ich warte. Aber ich dachte, wir gewinnen ein bisschen Zeit, wenn schon alles fertig ist.“
„Zumindest auf mich hättest du warten können“, stimmte Sascha halbherzig zu, obwohl er wahrlich keine Lust hatte, das Haus zu schmücken oder sich mit dem widerspenstigen Baum auseinanderzusetzen. Er hatte andere Pläne.
„Lieb von dir.“ Sie drückte ihn kurz an sich, bevor sie ihn ziehen ließ. Wohl wissend, dass Jungen in seinem Alter auch von der coolsten Tante nicht gehätschelt werden wollten. „Es macht mir ja Spaß, aber dieses Jahr ist alles wie verhext. Besonders, weil wir so viele sein werden und ich ... naja, sagen wir, ich rechne mit Spannungen. Und umso perfekter das Haus geschmückt ist, umso mehr Weihnachtsgeist, umso größer die Hoffnung, dass wir keinen Mord unter dem Weihnachtsbaum erleben werden.“
Im ersten Moment nickte Sascha abwesend, in Gedanken bereits halb bei Andreas. Doch nach ein paar Sekunden tauchten Tanjas Worte in seinen Verstand ein und weckten eine üble Ahnung, nein, vielmehr ein Wissen, das er bisher erfolgreich beiseitegeschoben hatte.
„Wer genau kommt denn alles?“, fragte er vorsichtig und innerlich betend, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen nicht bewahrheiten würden.
Tanja zog die Augenbrauen hoch: „Aidens Eltern, sein Bruder mit seiner Frau, deine Eltern und Katja natürlich. Wir sind zu zwölft.“ Sie stutzte. „Augenblick mal, dachtest du, wir würden dieses Jahr unsere Weihnachtstradition sausen lassen? Dachtest du, sie kommen nicht?“
Gedacht, was hieß schon gedacht? Er hatte es gehofft. Aus seinem Denken verbannt. Sich geweigert, sich damit auseinanderzusetzen.
Seit bestimmt zehn Jahren feierten die Holmes' und die Suhrkamps zusammen Weihnachten. Ein Jahr in Hamburg, ein Jahr in Hessen. Nur weil Sascha selbst den Haushalt gewechselt hatte, fiel die Tradition nicht dem Reißwolf zum Opfer. Nur weil er seine Eltern nicht sehen wollte, bedeutete das nicht, dass die ganze Familie für ihn auf ihr Beisammensein verzichtete. Er hatte allerdings Zweifel, ob sie sich in diesem Jahr einen Gefallen taten, wenn sie zusammen feierten. Allein bei dem Gedanken an die Spannungen zwischen seinen Eltern und ihm kam ihm die noch nicht gegessene Weihnachtsgans hoch. Fest der Liebe, am Arsch!
„Mama?“ Sina steckte ihren Kopf aus der Küchentür. „Du hast vergessen, die Platte einzuschalten. Der Spinat ist noch gefroren. Aber müssen die Kekse im Backofen so schwarz sein?“
Als Sascha rund zehn Minuten später ins Andreas' Zimmer polterte, war er nicht sicher, ob er wütend war oder schon im Vorfeld ein schlechtes Gewissen hatte, da er ein handfestes Desaster unter dem Tannenbaum auf sie zukommen sah. Einen hässlichen Streit, unter dem alle Anwesenden leiden würden.
„Ich habe es verdrängt! Fuck, fuck, fuck“, fluchte er lautstark. „Ich habe es verdammt noch mal verdrängt.“
Andreas, der an seinem Schreibtisch saß, drehte sich zu ihm um, während Sascha auf einem Bein hüpfte und mit einem störrischen Schuh kämpfte: „Was ist denn mit dir los?“
„Meine Eltern sind los! Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich habe einfach nicht darüber nachgedacht, dass sie zu Weihnachten herkommen. Die ganzen Feiertage lang. Wie stellen die sich das eigentlich vor? Dass wir uns alle für drei Tage lieb haben und hinterher wieder Gift und Galle aufeinander spucken? Scheiße, ich würde am liebsten abhauen.“
Der Schuh gab nach und landete krachend an der Wand.
Andreas zuckte die Achseln und erwiderte steif: „Dann mach das doch einfach, wenn du sie nicht sehen willst. Zwingen kann dich niemand. Du hast vielleicht Sorgen.“
„Ja, genau“, lachte Sascha böse auf und funkelte seinen Freund an. „Wie stellst du dir das vor? Weißt du, was dann passiert? Meine Mutter bekommt einen Anfall, schreit Tanja zwei Stunden an und holt mich zurück nach Hause unter ihre Fittiche, sobald ich wieder auftauche.“
„Das wäre schlecht“, gab Andreas zu. Sein Gesicht wirkte verschlossen und angespannt, aber Sascha hatte kein Auge dafür, fragte nur schlecht gelaunt: „Bist du da eigentlich festgewachsen? Werde ich nicht begrüßt?“
Daraufhin erhob sich der Langhaarige und schlenderte ihm entgegen. Er küsste Sascha flüchtig und strich ihm über den Hinterkopf, bevor er sich auf das Bett setzte und seinen Freund merkwürdig ansah: „Vielleicht geht ja auch alles gut. Wer kann das schon
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