Leben im Käfig (German Edition)
beendete den Satz nicht, denn er konnte nicht in Worte fassen, was er empfand. Andreas war kalt zu ihm. Nicht direkt unfreundlich, aber unnahbar. Es war, als würden sie sich durch einen Spiegel betrachten, ohne sich berühren oder miteinander sprechen zu können. Andreas war praktisch fort. Beleidigt löste Sascha sich ein Stück von ihm: „Habe ich dir irgendetwas getan?“
Erschrocken blickte Andreas zur Seite und sah ihm direkt in die Augen, vielleicht zum ersten Mal an diesem Tag: „Nein, auf keinen Fall. Ich ...“
Plötzlich agil schob er sich dicht an Sascha heran und berührte seine Wange. Nur mit den Fingerspitzen streichelte er ihn, bevor er ihn sacht küsste und gegen seine Lippen murmelte: „Entschuldige. Mich kann man heute in der Pfeife rauchen. Ich war mit den Gedanken woanders.“
Sofort schämte Sascha sich für seinen bissigen Tonfall und fragte leise: „Geht es dir nicht gut? Oder Ärger mit deinen Eltern?“
„Ja, kann man so sagen. Und Kopfschmerzen wie Hölle“, wisperte Andreas.
„Mist. Überall dasselbe“, flüsterte Sascha zurück.
Er war erleichtert. Wenigstens zwischen ihnen war alles in Ordnung. Kurzzeitig hatte er befürchtet, ihm drohe zu Weihnachten auch noch ein Beziehungsdrama. Dabei brauchte er Andreas gerade dringend als Rückendeckung. Gott, es machte Sascha Angst, wie sehr er Andreas brauchte.
Für ein paar Minuten blieben sie stillliegen, bis ihr Kreislauf langsam herunterfuhr und mit der Müdigkeit die Kälte kam. Ohne ein Wort zu verlieren, rollten sie sich von der Bettdecke, um anschließend gemeinsam bis zum Haaransatz darunter zu verschwinden. Schnell wurde es warm und der Höhleneffekt tat sein Übriges, um ihnen ein Gefühl von Nähe und Zusammengehörigkeit zu vermitteln.
„Am liebsten würde ich Weihnachten hier feiern“, gähnte Sascha nach einer Weile. Seine Hände schoben zwei Bahnen Stoff beiseite, suchten und fanden vertraute Haut und massierten träge die Rückenmuskeln, die sie erreichen konnten. „In deinem Bett und unter der Decke.“
Andreas antwortete nicht, presste sich aber wohlig an ihn und schlang ein Bein um seine Hüfte.
Sascha konnte nicht ahnen, wie verzweifelt Andreas seinen Wunsch teilte.
Kapitel 36
Wie der Geist der düsteren Weihnacht bewegte Andreas sich durch das Haus seiner Eltern. Nachdenklich, wehmütig, ein wenig allein, aber für den Augenblick nicht allzu betroffen.
Ruhelos strich er durch die teilweise pompösen, teilweise kühlen Räume, die er sonst nur selten betrat. Die Stille im Haus war einladend und abstoßend zugleich.
Das letzte halbe Jahr hatte ihn verändert, musste er sich eingestehen. Er hatte es kaum bemerkt, da die Veränderung schleichend vonstattengegangen war, anstatt sich mit einem Paukenschlag in sein Leben zu drängen. Warum ihm das ausgerechnet am Weihnachtsabend bewusst wurde, vermochte er nicht zu sagen. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er sich durch die Zimmer der Villa bewegen konnte, ohne sich beobachtet zu fühlen.
Sascha war der Dreh- und Angelpunkt in Andreas' Leben geworden. Seine Freundschaft und später Zuneigung hatte ihm einen Grund gegeben, morgens ausgiebig zu duschen und auf sein Äußeres zu achten. Sascha hatte dafür gesorgt, dass er wieder darauf achtete, in welchem Zustand sich sein Zimmer befand. Dass er sich auf den neuen Tag freuen konnte.
Und seltsamerweise hatte er Andreas im selben Atemzug ein wenig mehr Lebensraum geschenkt. Warum, verstand er nicht. Aber er fühlte sich insgesamt wohler in seiner Haut und damit komischerweise auch wohler in der Villa. Oder gaukelte die Stille ihm diese Veränderung nur vor? Hing das Gefühl von Freiheit, als er die Küche betrat, einzig damit zusammen, dass seine Eltern nicht daheim waren?
Andreas öffnete den Kühlschrank und griff verloren in seinen Gedanken nach der Glasschüssel Mousse au Chocolat, die Ivana für ihn vorbereitet hatte. Die Mühe, sich einen Löffel zu holen, machte er sich nicht. Stattdessen steckte er den Zeigefinger in die cremige Masse und leckte sich die Mousse von der Haut.
Niemand beobachtete ihn. Niemand beschwerte sich über seinen Mangel an Tischmanieren. Manchmal war allein sein schlicht großartig.
Schon bald wanderte die Schüssel wieder in den Kühlschrank, platziert zwischen sorgsam eingepackten Gänsebeinen und selbst gemachten Kartoffelklößen, die nur darauf warteten, aufgewärmt und verzehrt zu werden.
Aber Andreas verspürte keinen Appetit, obwohl sein Magen leise
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