Leben im Käfig (German Edition)
mir vorkomme?
Ich habe da drüben die Klappe aufgerissen, allen Weihnachten versaut und geglaubt, ich wäre die ärmste Sau weit und breit. Und ich habe dich beneidet, weil du nur deine Eltern hattest und kein ganzes Rudel Verwandter, die erwarten, dass man gute Miene zum bösen Spiel macht. Dabei warst du allein. Was hast du gemacht, Andreas? Hast du hier oben gesessen und versucht so zu tun, als wäre es ein ganz normaler Tag?“
Aufkeimende Übelkeit störte Saschas Monolog. Er rang nach Atem und versuchte, seinen Tränen Einhalt zu gebieten. Seine Schultern zuckten und sein Nacken war so steif, dass es wehtat.
Gott, was tat er hier? Er redete zu viel, aber andererseits ...
Sie mussten diese Dinge doch klären, oder nicht? Bisher hatte er immer geglaubt, sie könnten alles regeln, indem sie gut zueinander waren und sich nah kamen. In schweigendem Einverständnis und körperlicher Einigkeit. Aber das reichte nicht mehr. Nicht in dieser Situation, in die ihr Schweigen sie manövriert hatte. Nicht mit den Stiefeln ihrer Eltern im Rücken.
„Ich hätte anrufen sollen. Kaum zu glauben, aber meine kleine Schwester hatte recht. Ich hätte dich anrufen sollen. Aber du hättest es mir nicht gesagt, oder? Tut mir leid, dass ich mich hier so zum Idioten mache, aber ich habe Angst, dich auch noch zu verlieren. Du ...“ Der Gedanke traf Sascha wie ein Vorschlaghammer. Er wagte es nicht, Andreas anzusehen: „Das ist es, oder? Du willst mich nicht mehr sehen. Du machst Schluss. Deswegen sagst du nichts.“
Auf einmal schämte er sich für seinen Ausbruch. Himmel, hatte er gerade jemandem die Ohren vollgeheult, der nur darauf wartete, sich von ihm zu trennen? Dem er so weh getan hatte, dass er keine zweite Chance bekam?
Ein letzter Rest Stolz zwang Sascha dazu, die Schultern zu straffen. Die Kraft reichte nicht zum Aufstehen. Noch nicht. Er wollte aufgehalten werden, aber er würde nicht ewig warten. Oder vielleicht doch. Er hatte nicht das Gefühl, dass er sich in absehbarer Zeit bewegen konnte.
Die Minuten schlichen dahin. Er war ausgelaugt, leer.
Sascha begann darüber nachzudenken, wie er diesen letzten Schlag verdauen sollte. Wenn er es objektiv betrachtete, gab es keinen Grund, sich dumm anzustellen. Beziehungen zerbrachen, viele Homosexuelle hatten Stress mit ihren Eltern.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte er sich vorstellen, dass in ein paar Jahren der Tag kam, an dem er mit einem schiefen Lächeln an Weihnachten 2010 zurückdachte. Aber es brachte ihn um. Wie viel konnte ein Mensch an einem Tag verlieren, ohne wahnsinnig zu werden?
Am meisten erschreckte Sascha, dass ihn die Sache mit Andreas fast mehr schmerzte als das Verhalten seiner Mutter. Fast? Definitiv.
Wahrscheinlich war die frischste Wunde immer die, die am meisten wehtat. Oder Andreas bedeutete ihm viel mehr, als er bisher angenommen hatte.
Der Gedanke hatte etwas Beängstigendes an sich. Konnte man sich so schnell so heftig verlieben? Und wenn ja, was tat man, wenn man diese erste Liebe verlor? Er schauderte. Die Vorstellung war schwindelerregend. So nah und doch so fern.
Das zarte Geräusch von Satin, der sich aneinander rieb, erklang. Ihm wohnte etwas Tröstliches inne. Etwas, das Sascha an bessere Zeiten erinnerte, aber das getretene Tier in seinem Inneren aufjaulen ließ.
Es war Zeit zu gehen. Zumindest für heute. Vielleicht fiel ihm morgen ein, was er mit Andreas machen konnte. Vielleicht hatte Tanja einen Rat für ihn. Obwohl, nein. An sie konnte er sich unmöglich wenden, was den Kreis seiner Vertrauten böse einengte. Denn auch Katja kam nicht als Ansprechpartnerin infrage. Brain? Nein, nicht der richtige Typ für so ein Dilemma. Isa? Auch schlecht.
Erneut raschelte es, gefolgt von einem Räuspern.
„Schon gut, ich verschwinde“, flüsterte Sascha kreuzunglücklich. Eigentlich wollte er Andreas nicht mehr ansehen, aber er hatte das Gefühl, dass er musste. Auf Wiedersehen sagen. Sich seinen Anblick einprägen oder sonstigen Unsinn, über den er vor einem halben Jahr noch gelacht hatte.
Es war Glück, dass ihn diese romantische Anwandlung überkam, denn als er sich umdrehte und sich darauf gefasst machte, von Andreas' finsterer Miene aus dem Zimmer getrieben zu werden, erwartete ihn nichts dergleichen.
Nur eine einladend aufgeschlagene Bettdecke und ein langhaariger Teenager, der blass um die Nase war und feuchte Augen hatte. Und auf eine gequälte, verlorene, unsichere Weise lächelte.
Sascha wagte nicht zu
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