Leben im Käfig (German Edition)
eines Tages vor vollendete Tatsachen stellen würde. Zum Beispiel, dass seine Mutter schwer krank wäre, man alles versucht hätte, aber er sich damit abfinden müsse, dass sie nicht mehr lange zu leben hätte.
Andreas trat sich innerlich selbst vor das Schienbein. Er schämte sich nicht, als er sich wie ein Indianer auf dem Kriegspfad an die Wohnzimmertür heranschlich und das Ohr gegen das Holz legte.
Wenn man ihn nicht mit einbezog, musste er halt zu drastischen Maßnahmen greifen.
„... Vernunft annehmen!“, sagte Richard von Winterfeld gerade dumpf in seinem „Nun mach aber mal einen Punkt“-Tonfall.
Margarete klang ungleich unbeherrschter, als sie zischte: „Wie viele Tabletten ich schlucke, geht dich nichts an. Ich bin eine erwachsene Frau. Und jetzt mach mir den Weg frei. Ich muss zurück in die Firma.“
„Verdammt noch mal, du bist vorhin beinahe vor Schmerzen zusammengebrochen. Du solltest dich hinlegen!“
Hinter der Tür schob Andreas sich die Fingerspitzen seiner rechten Hand in den Mund, um einen Laut des Entsetzens zu unterdrücken. Zusammengebrochen? Tabletten? Er hatte es doch gewusst.
„Ja, genau. Und deswegen hätte ich jetzt gerne meine Pillen wieder, Richard. Herr Gott, es ist nur Migräne. Was soll das denn?“
„Was das soll? Es wurde dir gesagt, dass deine Anfälle mit Schmerzmitteln allein nicht weggehen werden. Auf Dauer helfen nur Ruhe und eine Änderung deines Lebensstils. Warum bist du nur so unvernünftig? Wir waren bei drei Ärzten und alle haben dir dasselbe gesagt: Du musst einen Gang zurückschalten und dir mehr Freizeit gönnen. Natürlich kannst du mit Ibuprofen den Tag durchstehen, aber wie lange willst du das denn machen?“ Richard wurde lauter und klang zunehmend frustriert. „Ja, ich weiß. Es ist nur Migräne. Aber du kotzt dabei wie ein Reiher und dein Magen hat in den letzten Jahren genug gelitten.“
„Was soll das denn nun wieder heißen?“, fauchte Margarete zurück. „Willst ausgerechnet du Fettwanst mir etwas über richtiges Essverhalten erzählen? Das soll ja wohl ein Scherz sein.“
Halb erleichtert, halb ob des bösartigen Tons seiner Mutter entsetzt nahm Andreas den Kopf von der Tür. Migräne. Hatte er selbst schon durchlitten und wusste insofern, dass Migräne nichts war, was man belächeln durfte.
Damit lief seine Mutter in der Gegend herum? Nahm starke Schmerzmittel, brach fast zusammen und wollte dennoch zurück zur Arbeit? Kein Wunder, dass sein Vater sie nicht gehen lassen wollte.
„Besser zehn Kilo zu viel als wie ein Kaninchen zu essen“, schnaubte Richard ungehalten. „Aber du brauchst gar nicht vom ...“
„Zehn Kilo? Dass ich nicht lache!“
„... Thema abzulenken. Du bist erschöpft, du bist krank, du hast eine, nein, mehrere ärztliche Anweisungen bekommen und es ist wohl nicht zu viel verlangt, dass du dich daran hältst, bevor du ein Magengeschwür bekommst. Damit ist keinem geholfen.“
Spitze Absätze knallten über die edlen Fliesen des Wohnzimmers, als Margarete sich bewegte.
Als sie wieder sprach, klang es, als stünde sie direkt neben oder vor ihrem Ehemann: „Ach komm, tu doch nicht so, als ob es dir um mich geht. Hat es doch noch nie. Ich weiß genau, was du vorhast.“
„Und das wäre?“
Andreas konnte nicht anders. Sein Vater tat ihm zunehmend leid. Früher hatte er eher mit seiner Mutter sympathisiert, doch in diesem besonderen Fall glaubte er, dass sie Richard unrecht tat. Vielleicht war Richard von Winterfeld in der Vergangenheit häufig über die Bedürfnisse seines Sohns hinweggegangen, aber seine Frau liebte er. Daran wollte und musste Andreas glauben.
„Mein geschätzter Sohn und du. Ihr beide arbeitet gegen mich. Ihr wollt mich Stück für Stück aus der Firma verdrängen. Ihr wollt mich loswerden. Aber es ist mein Erbe. Meine Firma. Andreas lauert doch nur auf seine Chance. Wie wollt ihr es machen? Wollt ihr mich entmündigen lassen, damit er sein Erbe vor der Zeit antreten kann? Was hat er dir versprochen? Die Hälfte der Anteile? Die Kontrolle über die Finanzen?“
Erschüttert sackte Andreas gegen die Tür, klammerte sich mit einer Hand am Rahmen, während unerbittlicher Schmerz durch seine Adern rauschte. Er war schockiert, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
Sie konnte nicht ... das konnte nicht ihr Ernst sein, oder? Nein. Seine Mutter würde nie glauben, dass er. ... warum auch? Und wie?
Offensichtlich verfolgte sein Vater ähnliche Gedankengänge, denn er rief aufgebracht:
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