Leben im Käfig (German Edition)
dachte, das er hinter sich gelassen hatte.
Nicht, dass er sich nicht auf Hamburg freute. Welcher Jugendliche würde sich nicht freuen, von einem Kuhdorf in Nordhessisch-Sibirien nach Hamburg zu ziehen, wo es Platz für jeden noch so schrillen Trend und jede sexuelle Orientierung gab? Er konnte es kaum erwarten, die In-Viertel der Metropole zu erkunden.
Vor der neuen Schule hatte er keine Angst, obwohl es kein Spaß war, ausgerechnet zum 13. Schuljahr und Abitur das Gymnasium zu wechseln. Neue Leute, neue Erfahrungen, der Duft der großen, weiten Welt. Nichts sprach dagegen.
Dazu kam, dass seine Tante, Pardon, Tanja klasse und nicht mit ihren biederen älteren Schwester zu vergleichen war, die Sascha in der Vergangenheit mit ihrem Scheuklappen-Denken oft zur Weißglut getrieben hatte. Er wusste, dass es nicht selbstverständlich war, dass seine Tante ihn aufnahm. Sie hatte selbst zwei wilde Kinder und genug Schwierigkeiten, ihre Familie und ihren Beruf unter einen Hut zu bringen. Wo Sascha ohne sie jetzt wäre, durfte er sich nicht vorstellen.
Gut, vermutlich wäre er zu Hause. Es war ja nicht so, dass seine Eltern ihn vor die Tür gesetzt hätten. Vielleicht hätte er ohne das großzügige Angebot von Tanja in ein paar Wochen oder Monaten freiwillig seinen Hut genommen.
Die letzten Jahre waren nicht leicht für ihn gewesen. Ständig hatte es bei ihnen daheim Ärger gegeben – immer war er zu wild, zu launisch, zu chaotisch, zu verantwortungslos, zu auffällig; schlicht zu extrem für die heile Welt seiner Eltern.
Dass sein Vater eines Tages unerwartet früher nach Hause gekommen war und Sascha wild knutschend mit einem Schulkameraden auf dem Sofa vorgefunden hatte, war nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Dabei wusste Sascha nicht einmal, womit seine Eltern ein Problem hatten. Hatten sie wirklich nicht gewusst, dass er schwul war? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen; auch wenn er es ihnen nie ins Gesicht gesagt hatte. Man sollte meinen, dass die Poster von halbnackten Kerlen anstelle von vollbusigen Models an seinen Schranktüren Hinweis genug gewesen wären.
Jeder hatte es gewusst. Seine jüngere Schwester, seine Freunde, die Leute in der Schule. Nur seine Eltern angeblich nicht. Und sie hatten sich für ihn geschämt. Das war wohl das Schlimmste an der Sache. In ihrem Universum war er ein Aussätziger; jemand, über den das ganze Dorf lachte und über den man redete. Das hassten seine Eltern am meisten: wenn man über sie redete.
Damit musste er sich von jetzt an nicht mehr auseinandersetzen. Sascha hatte sich eine bessere Alternative geboten. Wenn seine Mutter meinte, sich für ihn schämen und beim Gedanken an das, was er mit anderen Jungen machte, rot werden zu müssen, war das ihr Problem – nicht seines.
Entschlossen stand Sascha auf und machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Aus dem halb verwilderten Garten unter seinem Fenster drang das Kreischen spielender Kinder zu ihm hinauf – seine kleine Cousine hatte gleich ein ganzes Rudel ihrer Freundinnen zu Besuch – und aus dem Wohnzimmer im Erdgeschoss tönte schwungvoller Latin Jazz durch das Haus. Er hörte Tanja lauthals mitsingen. Sascha ließ sich im Schneidersitz auf dem abgewetzten Parkett nieder und nahm den ersten Stoß CDs aus der Umzugskiste. Während er sie alphabetisch sortierte, dachte er, dass es keinen Grund gab, sein neues Leben nicht mit offenen Armen zu empfangen und das Beste daraus zu machen. Hamburg erwartete ihn.
Kapitel 2
Es sollte ihm leicht fallen. Schließlich war er nicht auf dem Weg zu seiner Hinrichtung, auch wenn es sich so anfühlte. Alles, was Andreas wollte, war in den Garten gehen. Schwimmen. Es sollte ihm nicht solche Angst machen. Es war nicht logisch, nicht erklärbar und schon gar nicht sinnvoll, doch er konnte sich nicht gegen das nagende Gefühl in seinem Magen, die Schwäche in seinen Beinen zur Wehr setzen.
Andreas konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie alt er gewesen war, als er begann, sich in speziellen Situationen nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Anfangs war es nur ein unbestimmtes Gefühl von Nervosität gewesen, das von seinem Körper Besitz ergriff und ihn dazu brachte, gewisse Orte zu meiden. Er wollte nicht zu seinen Klassenkameraden nach Hause eingeladen werden, mochte den Schwimmunterricht im Hallenbad nicht und gruselte sich vor den engen Sitzreihen im Kino.
Als er zehn Jahre alt war – es war sein letztes Jahr
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