Leben im Käfig (German Edition)
geweckt – die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Früher war er oft draußen gewesen. Es war nie etwas passiert und er hatte sich gut gefühlt, wenn er auf den Grund des Pools tauchte und dort wie ein Delphin entlangglitt. Es hatte ihm ein Gefühl von Freiheit vermittelt und er liebte die Stille unter Wasser.
Spring, befahl er sich selbst. Tu es. Und sei es nur, damit sie sich freut und ein besseres Gewissen hat. Denk nicht ... denk nicht.
Das Wasser kam ihm entgegen und fing seinen Körper auf. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er so etwas wie Glück. Nach Tagen, in denen die Temperaturen stetig nach oben geklettert waren und Hamburg in eine Wüste verwandelten, ächzte seine Haut erleichtert auf.
Kurz glaubte er, klarer denken zu können als noch vor wenigen Minuten.
Andreas spuckte etwas Flüssigkeit aus und schüttelte wild den Kopf, sodass ihm die Haare um die Ohren flogen und als Schleier auf die Wasseroberfläche niedergingen. Er warf sich nach vorne, kraulte mit langen Bewegungen auf das Ende des Beckens zu und drehte unter Wasser um, als er es erreichte. Die ganze Zeit über gab es nur einen Gedanken in seinem Kopf: „Du darfst nicht denken.“
Er war auf halbem Weg zur anderen Seite des Pools, als ein Knall aus einem der umliegenden Gärten seine Aufmerksamkeit weckte. Die Reaktion erfolgte prompt. Die Angst jagte ihm ungefragt Gift in das Gehirn. Er war nicht in der Lage das Geräusch als Nebensächlichkeit abzutun. Es war bedrohlich, seine Lage lebensgefährlich, der fremde Einfluss potentiell tödlich. Einen anderen Schluss ließ sein Kopf nicht zu.
Hastig tauchte Andreas zum Rand des Beckens, wusste er doch, dass die körperliche Reaktion auf den Fuß folgen würde. Ihm wurde schwach zumute und seine Arme schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen.
Zu der irrationalen Angst, dass er den Beckenrand nicht erreichen würde, mischte sich die Sorge, dass ihn jemand beobachten könnte. Ihn und seine peinliche Vorstellung. Ein knapper Meter wurde für Andreas zu einer schier unüberwindlichen Entfernung und entsprechend überrascht war er, als seine Fingerspitzen gegen die Fliesen stießen. Zitternd lehnte er die Stirn gegen die gekachelte Wand, sammelte Kraft und verfluchte die Tatsache, dass der Pool so weit vom Haus entfernt war.
Etwas in ihm war sich sicher, dass er diese Strecke nicht überwinden konnte. Gleichzeitig wusste er, dass er nur in seinem Zimmer zur Ruhe kommen würde. Doch wie immer, wenn die Panik nach ihm griff, hatte sein Verstand nicht die geringste Chance gegen seinen Fluchtinstinkt. Als er sich mit bebenden Oberarmen aus dem Pool kämpfte, schlug er sich ungestüm das Schienbein am Beckenrand auf. Er sah weder das Blut, das ins Wasser lief, noch spürte er den brennenden Schmerz.
Die rettende Terrassentür schien meilenweit entfernt, kam nicht näher, so sehr Andreas auch rannte. Die Luft wurde ihm knapp, sein Magen wollte ihm durch den Hals entgegen springen und die Schwäche in seinen Beinen nahm gefährliche Ausmaße an.
Er stolperte, stürzte um ein Haar und hinterließ feuchte Fingerabdrücke auf dem Glas der Schiebetür, bevor er ins Innere der Villa stolperte. Er musste sein Zimmer erreichen, sich hinlegen, schlafen. Wenn er aufwachte, würde es ihm besser gehen – viel besser. Aber das war es nicht, was er wollte. Er wollte nicht schlafen, nicht krank sein, nicht auf dem Bett liegen und sich damit auseinandersetzen, was für ein Versager er war.
Wie so oft hatte er jedoch keine Wahl. Nach einer Panikattacke war er stets erschöpft, brauchte wenigstens für eine Stunde Ruhe, damit er sich regenerieren konnte. Wie ein geschlagener Hund kroch Andreas die Treppe hoch und verbarrikadierte sich in seinem unordentlichen Zimmer. Nur am Rande fiel ihm auf, dass seine Mutter recht gehabt hatte: Es roch muffig und unangenehm. Das war sein letzter Gedanke, bevor er sich krachend auf sein Bett warf und sich ein Kissen über das Gesicht zog.
Als er eine Weile später erwachte, fühlte er sich wie der Schwächling, der er war. Ungebetene Überlegungen forderten seine Aufmerksamkeit ein; allen voran die Frage, wie es mit ihm weitergehen sollte. Um die Stimmen zum Schweigen zu bringen, ging er in den Keller, um sich seinen kleinen Sieg für den Tag zu holen. Lächerlich, wenn man sich vor Augen hielt, dass der Aufenthalt in einem anderen Raum als seinem Zimmer anstrengend für ihn war.
Aber auch darüber wollte er nicht genauer nachdenken. Das Laufband wartete auf ihn,
Weitere Kostenlose Bücher