Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Drücken der Starttaste habe ich sie wieder herausgenommen: Was, wenn der Sinn des Lebens zufällig ein winziges, außerirdisches Baby ist, das mein Vater vor der sicheren
Verfolgung gerettet hat? Ich wollte den kleinen Kerl nicht mit Mikrowellen zu Tode erhitzen.
Mein letzter Versuch bestand darin, ein Buttermesser unter den Deckel zu klemmen, aber anstatt sich in die Kassette schieben zu lassen, stieß es auf eine weitere Holzplatte und ließ sich nicht mehr bewegen.
Ich mag keine Überraschungen. Ich schaue mir keine Gruselschocker an. Ich gehe nur ans Telefon, wenn ich über die Rufnummernanzeige sehen kann, wer anruft. Ich habe sogar etwas dagegen, wenn jemand sagt: »Weißt du was?«, und dann darauf wartet, dass ich es von allein herausfinde. Überraschungen machen mich nervös. Wenn du einmal eine knüppeldicke Überraschung erlebt hast, eine, die dich vollständig umhaut und dein Leben auf den Kopf stellt, dann erinnern dich alle kleinen Überraschungen an diese eine große.
Mit dieser Kassette geht es mir ein bisschen ähnlich. Sie steht jetzt mitten auf meinem Schreibtisch und macht sich über mich lustig. Obwohl sie gerade mal das Format eines Schuhkartons hat, schafft sie es irgendwie, alles andere in meinem Zimmer klein erscheinen zu lassen, einschließlich der lebensgroßen Hobbit-Pappfiguren aus Der Herr der Ringe. Und die klein erscheinen zu lassen, ist nicht leicht.
Ich schreibe Lizzy zurück und erkundige mich nach Einzelheiten ihres Plans, aber sie nimmt den Zettel nicht aus der Wand. Ein paar Minuten später hole ich mir den Zettel wieder und lege mein Ohr ans Loch. Das Poster, das auf ihrer Seite das Loch verdeckt, lässt kein Licht durch, aber immerhin kann ich Zilla, Lizzys Kater, laut schnurren hören. Genau genommen röhrt er eher, als dass er schnurrt. Zilla (abgekürzt für Godzilla, weil er alles zerstört, was ihm in die Quere kommt)
spielt Lizzys rabiaten Beschützer und stürzt sich auf jeden, der ihrem Zimmer nahe kommt. In den letzten zwei Jahren habe ich mich nicht weiter als einen Fußbreit in ihr Zimmer vorgewagt. Meiner Meinung nach hält sich Zilla für einen Pitbull. Ich poche ein paarmal gegen die Wand, aber nicht allzu laut.
Mum klopft an die Tür und bringt mir ein Erdnussbutter-sandwich auf einer Serviette. Sie wirft einen langen Blick zu der Kassette auf meinem Schreibtisch hinüber und will die Tür wieder hinter sich schließen, doch dann hält sie inne und sagt: »Warte, ich habe ja etwas für dich.« Gleich darauf steht sie wieder im Zimmer.
»Bei der ganzen Aufregung habe ich vergessen, dir das zu geben.« Sie hält mir etwas entgegen, das wie ein gewöhnliches gelbes Starburst Fruchtgummi aussieht. Aber als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass die untere Hälfte in Wirklichkeit orangefarben ist. Es ist eine Fehlproduktion!
»Danke, Mom!« Ich springe vom Bett auf und lege das Starburst in die luftdichte Plastikdose zu den anderen Süßigkeiten aus meiner Sammlung. Es ist schon einige Monate her, seit ich das letzte Mal etwas Neues beigesteuert habe. Aber luftdicht oder nicht, die M&M-Erdnuss sieht allmählich an ein paar Stellen leicht grünlich aus. Anfangs war sie gelb.
»Du hast einen strammen Tag hinter dir«, sagt Mom. »Sieh zu, dass du nicht zu spät ins Bett kommst.« Sie macht eine Bewegung, als wollte sie mich auf die Stirn küssen, so wie früher, als ich klein war. Doch dann wuschelt sie mir nur durchs Haar und wirft einen letzten Blick auf die Kassette, bevor sie die Tür endgültig hinter sich schließt.
Ich habe die Stunde zwischen elf Uhr abends und Mitternacht die »Stunde von Jeremy«, kurz S.v.J., genannt. Die
Stadt ist ganz ruhig und friedlich, abgesehen von den Polizei- und Krankenwagensirenen, dem Hupen von Autoalarmanlagen und dem Wasserrauschen in Rohrleitungen. Aber wenn man in der Stadt aufwächst, erscheint einem das als normales Hintergrundgeräusch, und man bemerkt es gar nicht. Ich fühle mich, als wäre ich der einzige lebende Mensch auf Erden.
Dank meiner vielfältigen S.v.J.-Lektüre weiß ich ein bisschen über vieles. Bei Trivial Pursuit gewinne ich immer. Ich würde einen hervorragenden Wer-wird-Millionär -Kandidaten abgeben. Gestern Nacht habe ich erfahren, dass hinter jedem Menschen, der auf der Erde lebt, dreißig Geister versammelt stehen. Natürlich nicht im wörtlichen Sinn, aber das ist die Anzahl der Toten im Vergleich zu den Lebenden. Insgesamt haben bisher hundert Milliarden Menschen diesen Planeten betreten
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