Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
Fußabstreifer! Ich habe alles in das Zentrum gesteckt, was ich hatte. Ich konnte nicht einfach weg. Ich musste mittun. Aber ich habe es gewusst: Irgendwann einmal geht Weis zu weit.“
Carmen starrt Berger böse an. „Wenn Sie so ein toller Mensch sind: warum hätten Sie mich dann verhungern lassen? Oder wäre ich verdurstet? Da waren nur zwei Wasserflaschen.“
Berger schüttelt langsam den Kopf. Er spricht, als wäre er im Container gefangen gewesen, noch immer gefangen. „Ich bin doch kein Mörder. Das Ganze … ist eskaliert. Ich wäre wiedergekommen. Ich hätte zu essen gebracht. Zu trinken. Ich musste nur eine Zeit lang vorsichtig sein. Sie hat zu viel gefragt. Sie musste eine Zeit lang weg. Es ist schon zu viel auf dem Spiel gestanden.“ Er sieht zu Zuckerbrot. „Es war ein spontaner Entschluss. Ich wusste, dass dort hinten ein Container war. Ich wollte doch nicht, dass sie alles zerstört. So kurz, bevor Weis enttarnt wird.“
„Da spricht was dagegen“, sagt Carmen. „Der ganze Container ist ausgepolstert. Irgendwelche Matten. Muss eine ziemliche Arbeit gewesen sein, das geht nicht ‚spontan‘.“
Ich sehe sie verblüfft an. Die kann denken. Viel schneller als ich. Na gut. Momentan schneller als ich. Aber sie hat ja auch kein Betäubungsmittel abbekommen. Zumindest nicht in den letzten Stunden.
„Die hatte ich aus unserem Entspannungsraum. Weis wollte sie entsorgen, ich habe ihm die Arbeit abgenommen. Ich habe mir seinen Helm geborgt, mit dem er bei der Recyclinganlage herumstolziert ist. Ich weiß, wie man Gummizellen polstert. Da gibt es einen Spezialkleber, es ging alles ganz schnell, hat keine Stunde gedauert. Ich bin keiner, der jemanden umbringt“, sagt Berger in die Richtung von Zuckerbrot. Es klingt, als würde er es selbst glauben.
„Sie hätten sie sterben lassen“, erwidert der Leiter der Mordkommission.
„Lassen.“ Irgendetwas klingelt bei mir. Wie war das? „Der Unterschied zwischen leben und leben lassen ist lassen.“ Kann Zerwolf davon gewusst haben? War das eine versteckte Botschaft? Es gibt Täter, die nichts tun, sondern nur etwas lassen.
[ 15. ]
Der Sturm geht los, als wir bei den Autos angelangt sind. Kaltfront. Man hat sie prognostiziert. Vielleicht ist die Wetterprognose inzwischen das Sicherste, was es auf der Welt gibt. Eine Stunde später sind in Wien so viele Einsatzfahrzeuge unterwegs, dass niemand mehr auf die Idee kommt, sie könnten mit einer bestimmten Person zu tun haben. Das, was da niedergeht, ist kein Regen, sondern ein Wasserfall. Tausende Keller sind überschwemmt.
Wir sitzen zu viert an Oskars Tisch und trinken Grappa. Carmen mag keinen Whiskey.
„Ich wollte doch nicht, dass du glaubst, ich komme wegen Geld“, sagt sie. Ihre Freundin studiere in Paris. Und deren Mutter sei einmal im Jahr für drei Wochen in einer Schönheitsklinik, und dort dürfe sie nicht gestört werden. Sie wäre während dieser Zeit auch nicht repräsentabel. „Also habe ich mich als die reiche Carmen ausgegeben, damit du mich kennenlernst und nicht eine, die nichts hat und trotzdem nichts will. Zumindest kein Geld.“
Ihre Mutter versucht ein Lächeln.
„Wenn du hier weiterstudieren willst: du kannst in meiner Wohnung bleiben“, murmle ich. Noch immer Watte im Hirn. Nein, Grappa im Blut.
„Ich weiß nicht“, sagt Carmen. Ihre Hände sind dick verbunden. Eigentlich hätte sie im Krankenhaus bleiben sollen, aber irgendwie hat sie die Zuständigen beschwatzt, sodass sie doch heimgehen durfte. Heim. Wo ist sie daheim?
Einige Tage später ist zumindest das klar. Carmen hat zahlreiche Interviews gegeben und ist dann mit ihrer Mutter zurück in die Schweiz. Sie will überlegen, was sie weiter tun möchte. Sie denkt daran, Journalistin zu werden. Auch mein Foto ist in allen Zeitungen. Die ersten Kollegen sind leider aufgetaucht, bevor wir die Recyclinganlage verlassen konnten. Auf dem Bild einer Tageszeitung habe ich schreckgeweitete Augen wie ein Flughund, den man blendet. Struppige Haare. Die nächste Ausgabe des „Magazin“ erscheint erst in drei Tagen. Ich habe nur eine Chance, dass meine verspätete Reportage jemanden interessiert: Ich muss sie so authentisch wie möglich schreiben. Meine Kollegen waren nicht dabei, als alles passiert ist. Auch wenn sie so tun. Für den Titel des nächsten Blattaufmachers kann ich nichts. Da hat sich der Chefredakteur durchgesetzt. Ich habe den Verdacht, dass ihn der Chronikchef beraten hat. Droch hat dazu jedenfalls nur
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