Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
„Wie dumm von mir. Er redet ja nicht.“
„Der war auch dort?“ Und im selben Moment weiß ich, wer der schlanke weißhaarige Mann am Tisch hinter uns war. Was für ein mieses Personengedächtnis ich doch habe. Weis und Zerwolf. Wie lange sie einander wohl angestarrt haben? Wer ist zuerst davongelaufen? Ein Guru und ein Philosoph. Zerwolf ist seit Jahren Einsiedler mitten in Wien. Irgendwann hat er aufgehört zu sprechen. Ich kann mich noch an die Zeit davor erinnern. Man hat ihn zu allem befragt, er hatte auf vieles eine Antwort, und hatte er keine, so hat er es zugegeben. „Ein großer Denker“, haben viele gesagt. Er hatte sogar eine eigene Fernsehsendung. Manchen war er zu präsent. Manchen war er zu populistisch, zu vereinfachend, gerade einigen seiner Philosophenkollegen. Jedenfalls ist Zerwolf Kult. Vor allem seit er schweigt. Ab und zu stellt er einige neue Gedanken auf seine Homepage. Die druckt dann sogar das „Magazin“ ab. Und einmal im Jahr spricht er. Da versammeln sich vor seinem Haus Tausende Anhänger. Seit zwei, drei Jahren wird das, was er sagt, auf riesigen Vidiwalls übertragen. Er ist so etwas wie ein modernes Orakel geworden, auch unter dem Jahr pilgern Menschen zu ihm. Nur dass er dafür nicht wie Weis Inserate schalten und eine Menge Unsinn erzählen muss. Wie der Philosoph wirklich heißt, weiß wahrscheinlich keiner mehr. Zerwolf. Das regt die Fantasie an. Einsamkeit und Kraft.
„Kennen Sie ihn? Was macht er auf einer Gala?“, frage ich.
Berger lächelt. „Keine Ahnung, ich kenne ihn nicht persönlich. Leider. Seine Bücher halte ich für herausragend, auch wenn sie sicher nicht der Grund sind, warum er so viele Fans hat. Zu schwierig. Eine Art Fortschreibung des Existenzialismus. Weis kennt ihn. Er hat ihn gesehen. Er hat es mir erzählt.“
Warum haben die beiden einander angestarrt?
Die Frau im „Begegnungsraum“ redet noch immer, Weis lächelt sie milde an. Jetzt steht sie auf, du liebe Güte, sie will ihm die Hand küssen. Weis entzieht sie ihr, er hat also doch noch gewisse Schamgrenzen, er schüttelt verzeihend den Kopf und hebt die Hände. Seine Hände verharren einige Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, dann einige Zentimeter von ihrer Brust entfernt. Er kniet nieder, seine Hände verharren einige Zentimeter von ihren Füßen entfernt. Jetzt sagt er etwas und sieht sie an. Wohl: „Gehe hin in Frieden.“ Oder etwas ähnlich Halbreligiöses. Er bleibt im Raum, lässt sich wieder nieder, scheint zu meditieren. Anstrengend, wenn man immer unter Beobachtung ist. Mir geht schon das Großraumbüro unserer Redaktion auf die Nerven, zum Glück kann ich mich hinter meinem Grünpflanzendschungel verschanzen. Die Frau kommt auf Berger zu, sie strahlt.
„Geht’s Ihnen gut?“, fragt Berger.
Sie strahlt weiter. „Wir haben in innerer Verbundenheit geschwiegen.“ Dafür hat sie aber recht intensiv die Lippen bewegt. Gucci-Tasche, eng anliegende weiße Armani-Jeans, reinweiße Turnschuhe mit goldenen und silbernen Glitzersteinchen, sicher auch eine teure Marke. Ich mache den Mund auf, mache ihn dann wieder zu. Gestern auf der Gala hat sie eine weiße Designerjacke getragen. Die Frau schwebt förmlich hinaus. Eigentlich in Ordnung, wenn jemandem eine Sitzung mit Weis so guttut. Trotzdem sage ich zu Berger: „Wird jetzt wohl Mode, das Schweigen, was?“
„Es ist eine der Lieblingstechniken von Weis.“
„Ist ja auch praktisch, wenn man nicht so viel sagen muss.“
Berger schüttelt den Kopf. „Manchmal ganz schön anstrengend, nichts zu sagen.“
„Kann es sein, dass Weis das mit dem Schweigen von Zerwolf abgeschaut hat?“
Berger zeichnet mit seinem Zeigefinger Kringel auf die Glastischplatte. „Lässt sich Schweigen klauen?“
Weis’ Jüngerin kommt zurück. Aufgeregt. „Ich habe völlig vergessen zu zahlen! Nicht dass Sie glauben, ich wollte einfach so davon…“
Dann sieht sie mich erstaunt an und runzelt die Stirn. „Haben wir uns nicht gestern …“
Ich nicke. „Sie waren mit Zerwolf dort, nicht wahr?“
Sie schüttelt den Kopf. „Er saß bloß zufällig an meinem Tisch. Ich kannte ihn nicht. Er hat übrigens auch gestern nicht gesprochen. Und Sie … sind eine Anhängerin unseres Meisters?“
Im ersten Moment weiß ich nicht, wen sie mit „unserem Meister“ meint, aber dann wird mir klar, dass es nur Weis sein kann. Ich schüttle den Kopf. „Ich redigiere bloß sein nächstes Buch.“
Ihr Blick wird etwas freundlicher. Ich kann nicht
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