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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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was man kann, worauf man bauen darf.Scheitern gibt einen »Vorschein«, eine Ahnung von dem, was es heißt, zu sterben – mitten im Leben.
    Scheitern als Hoffnungssturz, Kontinuitätsbruch, erschüttert das Sinngefüge eines Menschen nicht nur partiell, sondern insgesamt. Je nach Lebenssituation, Temperament und Wesensart kann sich diese Erschütterung mehr im Leiblichen oder im Geistig-Seelischen oder pendelnd zwischen Leib und Seele auswirken. Immer sind alle Persönlichkeitsschichten einbezogen: der Leib, das Selbstwertgefühl, die Beziehungsebene, die inneren Vorstellungen, die Sinnlichkeit und der Wille. Die Betonungen sind bei jedem anders. Um zwei Extreme zu nennen: Der eine weint tagelang, hat Alpträume, versinkt in schweren Verstimmungen und wird sogar körperlich krank – es geht ihm an die Nieren, oder er nimmt es sich zu Herzen – aber nach dieser Sinnkrise ist das Schlimmste überstanden. Der andere tut, als wäre nichts vorgefallen, entwickelt aber eine Reihe körperlicher Symptome und gerät in einen chronischen Prozess funktioneller Beschwerden, die ihn von Arzt zu Arzt führen und völlig gefangen nehmen, so dass er sich von den Mitmenschen abwendet und in Einsamkeits- und Fremdheitsgefühlen versinkt. Es gibt also nicht nur vordergründig auffallende Auswirkungen des Scheiterns, sondern auch weniger offensichtliche, schleichende, langsame, aber nachhaltig zermürbende, die den Sinn des eigenen Lebens in Frage stellen.
    Das Scheitern ist heute näher an uns herangerückt; es ist allgegenwärtig geworden. Niemand ist mehr dagegen gefeit zu scheitern. Es kann den Lehrer treffen, der den schulischen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, das Topmodel, das sich fast zu Tode hungert, den Fließbandarbeiter, der plötzlich entlassen wird, weil er das Soll nicht mehr erfüllt und den Berater, der von einem auf denanderen Tag keinen Auftrag mehr erhält. Wir sollen flexibel, belastbar, anpassungsfähig sein, uns weiterbilden, profilieren, Mut zur Entscheidung und zum Risiko beweisen. Wir haben gelernt, die Macher zu sein: Wer sich anstrengt und alles richtig macht, dem muss es einfach gelingen. Alles ist erreichbar, wenn man es nur richtig angeht. Heute im Zuge der Weltwirtschaftskrise erfahren wir aber täglich, dass Erfolgsversprechen nicht eingelöst werden, dass plötzlich alles ganz anders kommen kann. Scheitern kann uns alle treffen in unterschiedlichem Ausmaße, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Früher scheiterte man an Fehlern, heute an mangelnden Optionen oder fehlenden Verantwortlichkeiten. Es gibt also keine Garantie; die Diskrepanz zwischen den hohen gesellschaftlichen Ansprüchen und dem, was tatsächlich erreichbar ist, stößt Menschen in eine Sackgasse. Eine Krankenschwester beschreibt ihre berufliche Krise als »Sinnkollaps«. Plötzlich fühlte sie sich wie fremd, das Aufstehen wurde ihr zunehmend schwerer, sie erlebte sich wie »eine Kampfmaschine«, die nur noch funktionierte, sich immer freudloser durch den Tag schleppte und das Gefühl entwickelte: »Ich passe hier nicht mehr hin.« In ihren Worten: »Es war eine echte Sinnkrise, was natürlich in meinem Beruf leicht passieren kann, wenn man nicht gut für sich sorgt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurden diese Fragen für mich wirklich ernst: ›Wozu bin ich eigentlich da?‹, ›Warum mache ich das hier?‹, ›Will ich wirklich so weitermachen?‹ Zum Glück erlebte ich während eines Kuraufenthaltes, dass ich überhaupt nicht allein war mit diesen Fragen. Im Gegenteil, ich erlebte sogar sehr viel Nähe mit anderen, weil jeder dort schon einmal eine ähnliche Krise durchgemacht hatte.«
    Von dem Psychotherapeuten C. G. Jung ist überliefert, dass er gescheiterten Patienten immer wieder zu ihrenkleinen oder größeren Sinnkrisen gratulierte. Eine Einstellung, die vielleicht auf den ersten Blick befremdlich wirkt, der man aber einiges abgewinnen kann. Denn Erfolg stärkt uns zwar, aber am Scheitern wachsen wir. Scheitern birgt – auch wenn der Satz meist beschönigend gebraucht wird – tatsächlich eine Chance, denn es zeigt unsere Grenzen auf und zwingt uns, über uns selbst nachzudenken, eine neue Selbsterfahrung zu machen, die einen vielleicht erstmalig nach dem Sinn des eigenen Weges fragen lässt. Scheitern kann zum Anstoß werden, sich mit der Tiefe und Ausrichtung des eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Womöglich ist gerade das Scheitern ein bedeutender Lehrer für uns.
    Erst im Scheitern zeigt der Mensch sein

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