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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Antrieb schwindet und neue Entwicklungen werden im Keim erstickt. Albert Schweitzer sprach in diesem Zusammenhang von der »Schlafkrankheit der Seele«, die sich fast unmerklich insLeben einschleiche und deswegen so gefährlich sei. Sobald Zeichen von zunehmender Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit, Verlust an Schwung, Lebenslust und Vitalität auftauchen, sei man gewarnt. Sie sind ernstzunehmende Botschaften, die, wenn sie unerhört bleiben, zu innerem Kontaktverlust führen.
    Jeder kennt solche Versteinerungen, wenn das Leben festgefahren und zur Routine geworden ist. Manche Sinnräuber sind uns bewusst, und wir mobilisieren neue Vorsätze, wohl wissend, dass den Neujahrsvorsätzen nur ein bescheidener Erfolg vergönnt ist. Ein typisches Beispiel für dieses Dilemma: der ständige K(r)ampf mit Badezimmerwaage und Diät. Das Essen ist heute so problematisch wie die Sexualität vor 70 Jahren. Übergewicht zu vermeiden ist schwieriger geworden, als eine ungewollte Schwangerschaft zu verhüten. Wie soll man gut denken und gut lieben, wenn man ständig auf Diät ist und immer wieder rückfällig wird? Dahinter steckt mehr als nur das Heil des Körpers. Es handelt sich um eine tief sitzende Angst, die Menschen mit Essen oder Nichtessen behandeln. Gäbe man ihr eine Stimme, so würde sie fragen: »Was würde mich denn sonst nähren, wenn ich das Essen nicht hätte?« Statt emotional zu hungern, überträgt man seine seelischen Bedürfnisse auf das Essen. Ein Teufelskreis beginnt und die Folgen sind sichtbar und messbar. Verkniffene Gesichter, schlechte Laune und Nerven wie Seidenfäden.
    Wer würde schon bezweifeln, dass er unter Stress steht und den Weg des geringsten Widerstandes oft als einzig gangbaren Weg sieht? Ein Gläschen zu viel am Abend, weil niemand da ist, der einen tröstet, die heimliche Entspannungszigarette, die besessene Beschäftigung mit Fitness, das zwanghafte Beten, die Anhäufung von Gegenständen, die besinnungslose Pseudoaktivität, das exzessiveTelefonieren. Kaum einer, der frei ist von solch angstreduzierenden Strategien, die eines gemeinsam haben: man weicht sich und seinen Gefühlen aus, weil man nicht fühlen möchte, was man fühlt. Die Folge: Man überträgt seine seelischen Bedürfnisse auf Surrogate, auf »Ersatztranszendenz« (Peter Sloterdijk), entfernt sich mehr und mehr von seinem inneren Wesen und sucht sich ständig dort, wo man nicht ist. Sämtliche Ersatzstoffe erzeugen momentane Hochgefühle, sind »Freunde ohne Freundschaft«, wie die Autorin Connie Palmen es bezeichnet. Nur wenn ihre Wirkung nachlässt, fühlt sich der Gedopte einsamer und sinnleerer als zuvor. Nichts gegen moderaten Genuss. Kleine »Himmelfahrten«, um sich der Schwerkraft dieser Welt zu entziehen und wenigstens zeitweise die Last des Lebens leichter zu nehmen, tragen sicher mehr zur Sinnlichkeit bei, als ein moralinsaures Nüchternsein.
    Es darf nicht vergessen werden, dass sich zu allen Zeiten Menschen ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben zumindest partiell mit dem Gebrauch von Drogen erfüllt haben. Aufschlussreich, dass die am meisten verbreiteten Süchte heute nicht die Drogen, sondern das Essen und das Fernsehen sind. Beides Süchte, die 24 Stunden rund um die Uhr verfügbar sind. Während wir heute von massiven Suchtproblemen betroffen sind, so kannten die alten Kulturen zwar den ritualisierten Gebrauch von Drogen, aber keine Drogenprobleme. Ihre Drogenerfahrungen waren ritualisiert, vom Alltag abgesetzt und vom Miteinander getragen. Sie dienten nicht der privaten Berauschung, sondern sozusagen als »Türöffner für die Götter«. Während wir heute keine Rituale mehr kennen, die es uns erlauben, zum Überwältigenden der Droge ein Verhältnis aufzubauen, sondern uns selbst mit unseren Sehnsüchten überlassen oder zumindest tendenziell allein gelassen sind.Eine betroffene Alkoholikerin drückt das so aus: »Unserem Gott ist es doch egal, ob wir nüchtern durchs Leben gehen oder drogiert mit Wahrheiten herausrücken, solange wir unsere Arbeitstüchtigkeit einigermaßen bewahren.« Und sie zitiert den bekannten Slogan: »Nicht mehr Sorgen zu haben als Likör, aber auch nicht mehr Likör als Sorgen.« Sie funktioniert mit Hilfe des Alkohols und weicht der Sinnfrage aus. Ihr Leben funktioniert, aber das ist auch alles.
    Statt nun die Menschen, die mit Glücksdrogen über den Alltag hinwegschweben wollen, als Verlierer oder willenlose Versager zu sehen, die ihre Selbstzerstörung beschleunigen, könnte

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