Leben macht Sinn
zugänglich, aber sie sind nur ein schwacher Ersatz, denn nichts geht über die Wärme und den ruhigen Atem eines geliebten Menschen. Einsamkeit, Hilflosigkeit und zu viel Zeit zum Denken sind der Boden, auf dem Angst sich ausbreiten und gedeihen kann. Wie entkommt man diesem Zustand? »Geh’ aus dem Haus«, sagen dieAlten. »Geh’ aus und pflege Bekanntschaften und Freundschaften«, sagen die Jungen. Und meine Empfehlung: »Entwickle eine gewisse Aufmüpfigkeit, freche Gelassenheit, oder eine gesunde Portion Trotz.« Die Worte »Trotz allem« sind nämlich ein sehr ermutigendes Mantra. Denn Mut ist Macht. Mut bewahrt uns zwar nicht vor dem Autounfall, aber Angst erst recht nicht. Sowohl Angst als auch Mut verstärken sich, wenn man sie übt. Wenn ich heute Angst vor dem Lift habe, werde ich nächstes Jahr Angst vor dem Autofahren haben. Wenn ich heute auf die Turmspitze steige und nach unten schaue, werde ich später schwindelfrei (so wie Goethe uns das vorgelebt hat), und irgendwann habe ich vielleicht Lust auf Flugstunden. Mut kann man wie einen Muskel trainieren.
Dennoch verdient die Angst unseren Respekt und vor allem: unsere Toleranz. Manchmal ist die Couch eines Freundes wichtiger als heroisches Durchhalten. Und manchmal brauchen wir eine warme Höhle wie einst. Eine Höhle, in der wir uns dem warmen, friedlichen Atem eines anderen anvertrauen und nur lauschen. Denn diese Geborgenheit kennen wir alle: so begann die Welt für uns. Und genau in diese Geborgenheit wünschen sich Süchtige, Schüchterne, Ängstliche, Verzweifelte, und die, die keinen Ausweg sehen.
Die Sucht will mit uns reden, weil sie unsere Sehnsucht ganz nach vorn holt. Und mehr noch – sie führt uns zu der Stelle, wo neuer Sinn liegt, wenn wir den Mut haben, ihn auszugraben. Oder wie der Psychiater R. D. Laing es ausdrückte: »Man kommt nicht aus dem Gefängnis, bevor man nicht weiß, wofür man drin war.«
Ein Ausstieg aus diesem ewigen »Mehr desselben« würde die Seele verflüssigen, so dass sie als »die Bewegliche« (ahd. sela ) einen dorthin bewegt, wo unsereEinzigartigkeit, unsere innere Zusammengehörigkeit ihren wahren Ort hat. »Ich versuche nicht mehr, den Dingen auszuweichen. Seit ich mich ernsthaft gefragt habe: ›Was tust du da eigentlich?‹, packt mich ein regelrechter Widerwille gegen dieses ›Sich-Wegbeamen‹. Nie mehr lasse ich mir dieses hartnäckige, unbeirrbare Vertrauen nehmen. Es ist, als hätte ich nun Zugang zu dieser inneren Stimme gefunden, die mir immer wieder einflüstert: ›Du hast nichts zu befürchten.‹« Diese Frau, die ihren »Ausstieg« gewagt hat, versucht nicht mehr auszuweichen. Seither fühlt sie sich bewusster, lebendiger, geistig klarer und körperlich kühner, natürlich all dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Mutter von vier Kindern. Was sie entdeckt hat: Es braucht ein Nach-innen-Lauschen, das ganz anders ist als die süchtige Selbstbeschäftigung. Denn nun geht es um das Selbstsein. Um eine Selbstzuwendung, die eine größere Unabhängigkeit einleitet, weil sie weniger bereit ist, sich »wegzumachen«, sich besetzen oder zurückstellen zu lassen. Die Therapeutin Katrin Wiederkehr nennt sie treffend »eine neue Durchlässigkeit für das Wesentliche«. Eine Durchlässigkeit, die Raum schafft für eine neue Zugehörigkeit zu sich selbst und den anderen.
Scheitern birgt Sinn
Warum ist es passiert? Was mache ich jetzt? Wie geht es weiter? Über diese grundsätzlichen Sinnfragen stolpern Menschen, wenn sie scheitern, in Umbruchsituationen, bei Niederlagen und Krisen. Das Gefühl des Scheiterns, der Vergeblichkeit, der inneren Leere ist eine Grenzerfahrung, die das ganze Leben in Mitleidenschaft zieht. Eine Absage nach einem Bewerbungsgespräch zu bekommen; trotz Fähigkeiten und Bereitschaft keine Chance zu haben, sich selbst und seine Familie zu ernähren; das geplante Projekt für immer in der Schublade abzulegen: Das sind persönliche Katastrophen, traumatische Verluste, die wir ganz anders wahrnehmen als irgendein Pech, eine Panne oder einen vorübergehenden Misserfolg. Scheitern hat mit vergossenem Herzensblut zu tun. Eine Brücke ist abgebrochen, ein Lebenskonzept zerplatzt, ein Stück Leben beendet, eine Hoffnung zerschellt. Scheitern bringt die Seele in Not und schmerzt mitunter lebenslang, weil es die eigene Identität in Frage stellt. Man weiß plötzlich nicht mehr, ob man der eigenen Selbsteinschätzung trauen kann und beginnt zu zweifeln: an sich, an den anderen, an dem,
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