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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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wahres Ich. Wer siegt, kann sich der Anerkennung von außen gewiss sein. Wer auf der Verliererseite steht, ist auf sich selbst zurückgeworfen. Die eigene Persönlichkeit wird geprüft: Kann ich standhalten? Finde ich die nötige Kraft? Bekomme ich wieder Boden unter die Füße? Was sind meine Ressourcen, auf die ich zurückgreifen kann?
    Die wertvollste Gabe, die uns das Scheitern schenkt, ist sicherlich die Demut. Wir lernen, die eigenen Grenzen anzuerkennen, zu respektieren und neu abzustecken. Wir begreifen, dass wir nicht immer das bekommen, was wir wollen, was uns zusteht oder was wir meinen verdient zu haben. Wir verstehen, dass diese Haltung in eine Sackgasse führt. Denn eigentlich ist es ja so: »Nichts steht mir zu.« Das Licht der Bescheidenheit bricht durch die dunklen Wolken und führt vom Durchsetzen zum Hinschauen, Verstehen und Akzeptieren. Die Kanten der Realität lassen sich nicht mehr einfach abrunden durch die Flucht in eine vorgestellte Zukunft. Die Wachsamkeit gegenüber der eigenen Selbsteinschätzung oder Selbstüberschätzungführt zur Nüchternheit: Es ist so und nicht anders. Wir sind nicht unbesiegbar.
    Auch wenn es schmerzhaft ist: Wer scheitert, erhält die Chance, den eigenen Lebenskurs zu korrigieren. Man wird gezwungen, genau hinzuschauen, wie man seinem Kurs eine neue Richtung geben könnte, und wie es dazu kam, dass man dort landete, wo man gelandet ist. Beides zusammen, Bilanz und Kurskorrektur, öffnet neue Türen. Es liegt an uns, sie aufzustoßen und weiterzugehen. Vielleicht steht sogar beides an: eine Bilanz des bisher Gelebten und die Überprüfung des eigenen Maßstabs. Oft ist es nämlich die eigene innere Messlatte, die unser Scheitern definiert und die zur Grundlage für die Beurteilung des Erreichten wird. Dabei denke ich an die vielen Frauen, die es schaffen, Familie, Haushalt und Berufstätigkeit unter einen Hut zu bringen, und vor lauter Anstrengung gar nicht realisieren, wie hoch ihre Messlatte gesteckt ist. Oft führt erst eine Krise dazu, dass sie erstmalig ihren eigenen Maßstab überprüfen und hinschauen, welch respektable Höchstleistungen sie tagtäglich vollbringen, um dann eine neue Perspektive zu gewinnen und die selbst gesteckten Ansprüche etwas zu relativieren.
    Scheitern hängt mit der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung eines Ereignisses zusammen. Mit anderen Worten: Scheitern ist eine relative, unsichere Größe. Scheitern ist zwar unserer Absicht entzogen, aber es liegt an uns, wie wir es interpretieren. In den meisten Situationen ist Scheitern eine Frage der Perspektive. Insofern sind Erfahrungen des Scheiterns Stufen einer Entwicklung, denen man nicht immer sofort ansehen kann, ob sie zu einer Leiter, einer Tretmühle oder dem Stillstand gehören. Mitunter kann das Scheitern zu einem späteren Erfolg führen, der bloß noch nicht sichtbar ist.
    Die gegenwärtige Ideologie, sich ständig vorwärts bewegen zu müssen, lässt uns beim Scheitern verwaist zurück. Am Erfolg jedoch wollen alle beteiligt gewesen sein. Dabei könnte gerade das Scheitern uns miteinander verbinden, solidarisch werden lassen, was ja auch in dem Satz »Irren ist menschlich« mitschwingt. Statt möglichst schnell wieder im Wirbel von Aktivitäten die nächsten Runden anzutreten, gilt es zunächst einmal, das Scheitern als Unterbrechung der Alltagsroutine anzunehmen. Als eine notwendige Unterbrechung, die das eigene Denken befreit und entschlackt. Denn in dieser Lebensepisode spielen zwei Geigen zum Tanz auf: die Bewertung und die Vorstellung. Für diejenigen, die im Scheitern nur den Absturz sehen, wird er nicht ausbleiben. Scheitern heißt, ein Ereignis bewerten. Wer es als Grab bewertet, wird sich auch dort hineinlegen. Wir leben und sterben an unseren Bewertungen und Vorstellungen. Wer hingegen im Scheitern die Chance der »Wiederauferstehung« sieht, wird sich darauf einlassen und verändert daraus hervorgehen.
    »Der Mensch erkennt sich, wenn er sich an Widerständen misst«, sagte Antoine de Saint-Exupéry. Das heißt, er erkennt sich daran, was er nach dem Scheitern tut. Der Unterschied zwischen Menschen, die durch Niederlagen stärker oder schwächer werden, liegt nicht in der Anzahl der Niederlagen, die sie erleiden, sondern darin, was sie danach tun. Wer in der Verleugnung stecken bleibt, nach Rechtfertigungen sucht oder in Selbstanklagen kleben bleibt, gelangt nicht zum Stadium des Aufbrechens. Die wirkliche Herausforderung beginnt an dem Punkt, an dem man sich

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