Leben macht Sinn
Lerche lauschen und empfinden: »Sie singt für mich!« Ich denke an eine anstrengende Zugreise zurück, als plötzlich ein Kind aus der Reihe vor mir sich über die Sitzlehne beugte und anfing, mit mir »Verstecken« zu spielen. Es begann harmlos: Hände vors Gesicht, Hände weg vom Gesicht und immer wieder das erlösende Kichern: »Ich hab’ dich!« Im Nu war meine Müdigkeit verschwunden. Es gab nur noch den kleinen Rausch unseres Spiels und die aufatmende Dankbarkeit, dass der Zufall mir ein Stück Sinn hergeweht hatte. Wir beide hatten einen magischen Moment desSinns geteilt. Eine Erfahrung, die ich so intensiv wahrnahm, weil sie sinnvoll war.
Eine ähnliche Erfahrung beschreibt eine Gynäkologin: »Jahrelang habe ich Frauen bei Geburten begleitet. Ich empfand keine Geburt als Routine, immer hatte ich dieses Gefühl, ich bin in ein Wunder involviert. Aber als ich selbst zum ersten Mal Mutter wurde, war alles ganz anders. Dabei sein ist eine Sache, aber selbst ein Kind zur Welt zu bringen, das heißt wirklich am eigenen Leib zu spüren, was Leben ist. Nie im Leben war ich so tief berührt, nie spürte ich so leibhaftig, dass mein Leben einen tiefen Sinn macht.«
Nicht nur die Sternstunden holen Sinn nach vorn, auch der Alltag ruft uns oft mit Fragen: Welchen Sinn macht meine Arbeit? Was soll ich hier? Wofür soll ich mich anstrengen? Luxus? Gut essen? Gut trinken? Gute Gesellschaft? Beruflicher Einsatz? Genügt das? Wahrscheinlich würden die meisten mit Nein antworten. Weil wir spüren, je mehr wir von Versprechen umgeben sind, die unsere Sehnsüchte auf der materiellen Ebene stillen sollen, desto unruhiger meldet sich die Frage: Wofür das alles? Wenn wir uns in den vielen kleinen Dingen verlieren und uns von ihnen besetzen lassen, so Sloterdijk, dann sind die Hände nicht frei für die großen Dinge. Es geht um mehr.
Vielleicht lässt dieses »Mehr« sich vergleichen mit einem Schwimmer. Wer schwimmt, ohne ein Ziel oder eine Richtung einzuschlagen, verliert nicht nur die Orientierung, sondern auch die Kraft und die Entschlossenheit, weiterzuschwimmen. Solange er seinen Blick auf eine Markierung, einen Horizont heften kann, macht das Schwimmen einen Sinn und der zurückgelegte und vor ihm liegende Weg lohnen sich. Allein eine Richtung zu haben, macht den Weg sinnvoll, selbst wenn er anstrengendist und ziemlich kurvig verläuft. Die Orientierung gibt dem Blick eine Ausrichtung. Vielleicht dauert es lange, bis man ankommt, aber je weiter man kommt, desto deutlicher, näher rückt das Ziel. Was vielleicht anfänglich wie ein ferner Punkt erschien, wird zu einem großen Bild.
Wie dieser Schwimmer halten auch wir es schlicht nicht aus, Einsatz zu bringen, ohne den Sinn zu erkennen. Wir wollen unsere Pläne und Wünsche einem größeren Zusammenhang zuordnen, anders halten wir das Widrige, das Unbequeme, Schmerzliche nicht aus. Wir empfinden nur Sinn, wenn wir Zusammenhänge sehen, meint Schmid. Das zähe Festhalten an diesem Wunsch zeigt sich besonders, wenn unsere Pläne durchkreuzt werden. Auch das Schmerzliche, Misslungene soll einen, wenn auch verborgenen, Sinn haben, weil wir nach Zusammenhängen suchen, die beruhigen und Motivation liefern. Nur wer ein Ziel erkennen kann, hat einen Grund sich einzusetzen. Ob das die Schule, die Universität, die Firma oder das Geschäft ist: Je nachdem wie diese Institutionen diese Fragen beantworten, fällt das Engagement der Beteiligten aus. Wenn ein System dauerhaft Antworten schuldig bleibt, verweigern ihm die Menschen ihre Einsatzbereitschaft. Dazu die bekannte Geschichte von den drei Steinhauern, die man fragt, was sie gerade tun. Der Erste gibt Auskunft: »Ich haue Steine.« Der Zweite antwortet: »Ich arbeite an einer Säule.« Der Dritte begeistert: »Ich baue mit an unserem Dom!« An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig der Sinn-Horizont ist. Wer glaubt, an einem sinnvollen Größeren mitzuwirken, der wählt den anspruchsvolleren Weg.
Ob Menschen einen Sinn erkennen, hängt auch davon ab, ob sie die Wegstrecke, auf der sie sich befinden, als wertvoll einschätzen. Sinn lässt sich nicht aufschieben in die Zukunft, in ein nächstes Leben, sondern unsere»Lebenszeit« findet jetzt statt. Das »eigentliche« oder bessere Leben kommt nicht erst, sondern wir sind mittendrin. Es gibt nur dieses eine, wir haben kein zweites, interessanteres in der Tasche.
Inmitten der Turbulenzen unserer Welt könnte uns mit diesem Bewusstsein die Einmaligkeit des eigenen
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