Leben macht Sinn
Lebensweise eines Menschen in seiner konkreten Lebenssituation. Dabei denke ich an unser gegenwärtiges Ideal von einer unerschütterlichen Gesundheit. Untersucht man das ausgeklügelte Risikomanagement, das heute zu den Bürgerpflichten des 21. Jahrhunderts gehört, richtet man sich nach den statistisch fundierten Lebensregeln: Nicht rauchen! Nur mäßig Alkohol (bloß keinen Wodka)! Nur zehn Minuten an die Sonne (am besten abends)! Ernährungsratschläge befolgen (mindestens fünf pro Tag)! Vorsorgeappelle einhalten (mindestens einmal pro Jahr)! Sport treiben (aber nicht zu viel joggen)! Aufs Land ziehen! Heiraten! So – macht man uns weis – können wir nicht nur ein paar Jahre mehr herausschlagen, sondern auch allerlei Risiken minimieren. Wie lächerlich sich solche Vorschläge ausnehmen, können wahrscheinlich am besten diejenigen ermessen, die am eigenen Leib erlebt haben, wie Sinn sich wandelt, wenn das Leben nicht mehr als selbstverständlich betrachtet wird, das einem zusteht, wenn man sich nur richtig verhält.
Dass Krankheiten heilsame Wirkungen haben, entdecke ich, wenn ich mir die Menschen vor Augen führe, die auf eindrückliche Weise vorleben, wie Krankheit, so schwer sie auch sein mag, uns nicht widerfährt, um uns zu vernichten. Denen es gelingt, auch für uns den Blick für andere Welten der Wahrnehmung zu öffnen. »Die Tatsache, dass ich im vollen Leben überrumpelt wurde, hat michzunächst erschüttert. Aber ich war dem Leben noch nie so intensiv verbunden wie in der Zeit nach meinem Herzinfarkt, als ich dachte, es würde zu Ende gehen. Ich hatte Empfindungen, die dem Gefühl des Lebenssinns so nahe waren wie noch nie. Ich habe das Existentielle des Lebens gespürt und habe mehr gelebt als all die Jahre zuvor.«
Im Grunde sind solch tiefe Sinnerfahrungen nicht abzukoppeln vom Wissen, dass alles zu Ende sein kann. Wie es dieser Betroffene beschrieb, werden sie sogar intensiver, wenn man ein mögliches Ende auf sich selbst bezieht und annimmt. Ähnlich erlebte es ein Kollege: »Da war keine Angst, kein Suchen nach Erklärungen, kein Entrinnen-Wollen. Die Tatsache, dass ich angehalten worden war, erfüllte mich mit Freude.« Oder eine Krebspatientin: »Dass ich diesen Tag heute mit allen Sinnen genieße, hat ganz viel damit zu tun, dass ich nicht weiß, ob ich morgen aufwache.« Dass Kranke sinnliche Erfahrungen und Lebensende zusammen denken können, gibt ihrem Erleben und Wahrnehmen eine Tiefe, die entschlackt ist von der Selbstbezogenheit und befreit zur Annahme des Widerfahrenen. Seine Härte wird dadurch vielleicht nicht gemildert, aber die Welt spricht neu zu ihnen und weckt ihre Sinne für andere Wahrnehmungen, die von einer Durchlässigkeit für das Wesentliche sprechen. Krankheit ist der große Weckruf oder zumindest Denkanstoß, der aufrüttelt, über den Sinn des eigenen Lebens nachzudenken. »Ich bin weicher, toleranter und geduldiger geworden. Ich empfinde Dankbarkeit meinem Leben gegenüber. Endlich weiß ich zu schätzen, dass alles nur auf Zeit geliehen ist«, diese Betroffene hat vor allem Eigenschaften in sich entdeckt, die sie verändert und ihr neuen Sinn geschenkt haben.
Viele machen beim Einbruch einer Krankheit vielleicht zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Erfahrung vonSinn und Sinnlosigkeit. Erst die Gefährdung des Lebens ist für sie der Moment der vollen Bejahung ihres Daseins. Sie fühlen sich auf eine neue Art zugehörig, weil ihre ehrgeizigen Pläne und Projekte nicht mehr zwischen ihnen und dem Leben stehen. Ihr Blick darf sich nun durch all die Schichten von Verpflichtungen und Zuständigkeiten ins Eigentliche einlassen. Deswegen sind gerade unter denen, die es gelernt haben, sich mit ihren Krankheiten zu versöhnen und ihnen einen tieferen Sinn zu geben, die Sinnexperten. Sie kennen die langen Wege, die unermüdliche Suche nach Erklärungen, aber auch das Reifen zu neuen Einsichten. Sie wissen, dass in jeder Krankheit die Chance zu einem Neuanfang liegt. »Endlich bin ich bei mir selbst gelandet«, so drückte sich eine Klientin aus. Was sich mit diesen Erfahrungen aufbaut, ist nichts anderes als Sinn – Sinn für ein befreites Ich.
Schicksalsschläge sind Schläge
»Das Schicksal eines Menschen liegt in seiner Hand«, so die Aussage von Francis Bacon. Ist dem wirklich so? Haben wir es in der Hand? Oder jemand oder etwas anderes? Es gibt ja auch die sogenannten Umstände, höhere Mächte oder Murphys Gesetz: »Was schiefgehen kann, geht schief«.
Aber was
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