Leben macht Sinn
Lebens, einer unwiederholbaren Stunde, einer Begegnung – oder das Glück einer warmen Hand oder eines Augen-Blicks – neu und intensiver bewusst werden. Wir würden einfache Vollzüge – ein Essen kochen, den abendlichen Spaziergang, die Eigensinnigkeit des eigenen Körpers, die Stille einer autoleeren Straße, den Geruch eines Pinienwaldes, die herzliche Umarmung – deutlicher wahrnehmen, wenn wir bewusst damit leben, dass Lebenssituationen einzigartig und nicht wiederholbar sind.
Allerdings: Die Wiederentdeckung und Wertschätzung solcher sinnhaften Erfahrungen erfolgt vor dem Hintergrund einer unüberschaubaren, komplexen, kontingenten Welt. Sie sind nicht unberührt von ihr. Aber dieses Nicht-Austauschbare, Nicht-Wiederholbare hält das Chaos doch zumindest etwas ab und bleibt letztlich im Kern und in der Intensität unbetroffen. Ähnlich wie die Liebe, die es immer nur im Wissen der Trennung gibt, deren Inneres aber nicht die Trennung ist, sondern allenfalls irgendwann ihr Schicksal.
Krankheit und Sinn
In der Krankheit erleben wir etwas, das wir nicht »in der Hand« haben, eine Erinnerung an unser existentielles Ausgeliefertsein in einer sonst relativ sicher erscheinenden Welt. Plötzlich ist da eine dunkle Wolke über unseren kleinen und größeren Vorhaben und Zielen. Wir erleben etwas von der Unberechenbarkeit des Schicksals, die wir bisher verdrängt hatten. Nichts mehr ist, wie es war. »Irgendwann erwischte mich das Schicksal, vor dem ich mich immer gefürchtet habe. Plötzlich konnte ich nicht mehr wegschauen, verdrängen, ignorieren. Ich wusste tief innen, dass ich das falsche Leben führe, aber ich musste regelrecht rausgerissen werden. Das geschah dann auch, als ich diesen tonnenschweren Satz hörte: ›Sie haben Brustkrebs.‹« Rückblickend empfindet diese Frau, die bis dahin einen 17-Stunden-Tag lebte, ihre Krankheit als unüberhörbares STOPP, das ihr heute fast wie eine Fügung erscheint.
Vielleicht können nur diejenigen, die schon gezwungen waren, ernste, lang währende Krankheiten durchzumachen und durchzustehen, Sinn in einer Welt entdecken, die aus dem Leiden auftaucht. Kaum einer, der nicht bestätigen kann, dass eine Krankheit neue Einsichten weckt. EineKrankheit reißt aus der Routine des täglichen Lebens heraus. Plötzlich weiß man am eigenen Leib um die Unverfügbarkeit, um dieses rätselhafte, unvorstellbare, launische Schicksal, das man vorher vielleicht jahrelang verdrängt hat. Fragen tauchen auf: Was sagt mir meine Krankheit? Was soll ich lernen? Vielleicht vermag in einem aktiven Leben erst die Krankheit zum Nachdenken führen und zur Entdeckung, dass fortan nichts mehr als selbstverständlich betrachtet werden kann. Krankheit gibt uns einen Zugang zu uns selbst, zu unbewussten Motiven, unterdrückten Impulsen. Vielleicht fragen wir erstmalig, welcher Sinn uns im eigenen Leben eigentlich leitet. Ob der berufliche Kampf, die gesellschaftliche Stellung und die Freizeitgestaltung wirklich zur Lebendigkeit beitragen oder eher dazu dienen, das Leben zu verdrängen, zu vertagen, zu strapazieren oder zu überfordern. Wer sich nur für andere engagiert, muss sich vielleicht endlich mit den eigenen Sinnperspektiven auseinandersetzen und anfreunden. Eine Schwerkranke beschrieb es so: »Durch meine Krankheit habe ich zum ersten Mal erfahren, was es heißt, Zeit zu haben, um einfach zu leben.« Eine andere drückte es ähnlich aus: »Endlich bin ich bei mir selbst eingekehrt.« Die Wahrnehmung, was ein Leben sein könnte, in dem man Zeit hätte, zu leben, ist für manche tatsächlich erst denkbar, wenn sie durch die erzwungene Ruhe den Blick neu schweifen lassen dürfen. Nur in der ausweglosen Sinnlosigkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes perspektivlos ist, weil sie ausdrückt, dass nichts mehr leben, nichts mehr gestaltet werden kann, ist kaum etwas anderes zu erkennen als das Ende der Hoffnungssuche – das Elend. Schwer zu ertragen, lähmend ist es, wenn wir nur mitfühlend Zeuge sein können, wenn jemand die Zukunft nur als drohend erlebt und keine Hilfe mehr annehmen kann.
Jeder Kranke ist ein Individuum und nicht ein »Fall«, denn Krankheit ist ein persönlicher Prozess, ein Hilferuf der Seele, in dem sich ausdrückt und bis in die Organe zur Sprache kommt, was dem eigenen Leben widerfahren ist. So gewinnen wir auch eine andere Sicht von Gesundheit. Nicht als Ideal, dem wir angestrengt nacheifern, oder als Bedingung für allgemeines Wohlbefinden, sondern als Ausdruck und
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