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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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ihnen heraus, kleine Wertpapiere, Füllfederhalter, Armbanduhren.«
    Sobald die vorgeschriebene Zahl an »Menschenmaterial« erreicht ist, werden die Wagentüren bis auf einen kleinen Spalt zum Luftholen geschlossen: »Der Kommandant gibt das Signal zur Abfahrt: Ein Wink mit der Hand. Die Pfeife schrillt, meistens gegen elf Uhr; allen im Lager geht der Ton durch Mark und Bein. Die räudige Schlange macht sich mit gefülltem Wanst davon.« Der jüdische Bevölkerungsteil in den Niederlanden ging seiner totalen Eliminierung entgegen.
    Die jungen Leute in den vier Widerstandsgruppen, die jüdische Kinder aus der Kinderkrippe gegenüber der Schouwburg schmuggelten und sie zu Pflegefamilien im ganzen Land brachten, gönnten sich keine Pausen. Permanent kamen neue Kinder in die Crèche, die von den Männern der Kolonne Henneicke aufgespürt worden waren. Zugleich war es Henriette Pimentel, der Direktorin, gelungen, einen neuen Fluchtweg aus der Krippe aufzutun. Zwei Häuser weiter, Plantage Middenlaan 27, befand sich eine Fachoberschule der Reformierten Gemeinde. Die Gärten hinter den beiden Gebäuden waren nur durch eine kleine Hecke getrennt. Henriette Pimentels Kontakt zum Schuldirektor war so vertrauensvoll, dass ab Mai Kinder über diesen neuen Fluchtweg in ein neues Leben geschleust werden konnten.
    Der Schuldirektor war einverstanden, dass Kinder aus der Crèche in der Schule ihren Mittagsschlaf hielten und im Schulgarten spielen durften. Abends wurden sie wieder über die Hecke gehoben und kamen zurück in die Crèche. Was in der Zwischenzeit geschah, kümmerte den Direktor nicht.
    Die Schüler registrierten, dass nachmittags in der Schule Erwachsene ein und aus gingen, die nicht zum Krippenpersonal gehörten. Keiner der Schüler hat verraten, was offensichtlich war: »Kinderhelfer« nutzten den neutralen Eingang der Reformierten-Schule, verließen dann auf dem gleichen Weg vorsichtig mit einem jüdischen Schützling das Schulgebäude, und verschwanden schnell um die nächste Ecke, während die SS -Bewacher vor der Schouwburg auf der anderen Straßenseite auf den Eingang der jüdischen Krippe fixiert waren.
    Wie schnell vergehen vier Wochen, wenn Kinderleben gerettet werden sollen. Wie bleiern schleicht die Zeit, wenn Erwachsene, mit gepackten Rucksäcken, Nacht für Nacht regungslos in der Wohnung im Dunkeln sitzen und die Stiefelschritte auf dem Pflaster fürchten, die schrille Klingel, den Lärm an der Wohnungstür, das barsche Kommando: Mitkommen, aber schnell. Wenn sich neben aller Angst die winzige Hoffnung hält, dass es vielleicht doch ein Ende haben könnte mit der Menschenjagd – jetzt, heute Abend.
    20. Juni – Es würde ein schöner Sommersonntag werden. Man spürte es schon in der Morgendämmerung, als hunderte von deutschen Polizisten, Angehörige der niederländischen Freiwilligen Hilfspolizei und einige Dutzend Männer vom Jüdischen Ordnungsdienst des Lagers Westerbork, weiße Binden am Arm, das Transvaalviertel und Amsterdam Zuid hermetisch absperrten. Brücken über die Grachten und Kanäle gingen hoch, an strategisch wichtigen Kreuzungen standen die »Grünen«; passieren durfte nur, wer einen Sonderausweis hatte. Es sollte eine umfassende und überraschende Razzia werden. Adolf Eichmann hatte sich aus Berlin gemeldet und die Vorgabe an niederländischen Juden, die bis zum Jahresende »die Züge nach Osten« füllen sollten, erhöht. Wieder »lieferten« die Franzosen nicht genug für die Vernichtungslager. Nach den Absperrungen kam die Polizei mit Lautsprecherwagen und befahl, dass alle Juden sich mit Gepäck zur nächstliegenden Sammelstelle begeben sollten: zum Krugerplein oder Sarphatipark, zum Olympiaplein, Daniel Willinkplein (Victorieplein) und zum Polderweg.
    Der intime Krugerplein liegt in der Transvaalbuurt, dem Vorzeigeviertel des modernen sozialen Wohnungsbaus, den der Gemeinde-Politiker Monne de Miranda in den zwanziger Jahren maßgeblich gefördert hatte. Am 20. Juli 1943 standen die letzten Juden des Viertels, die seit Juli 1942 noch nicht durch Aufrufe oder Razzien in die Fänge der Deutschen geraten waren, am Krugerplein, und warteten, bis sie, vom Jüdischen Ordnungsdienst angewiesen, in die mit Planen bedeckten Lastwagen stiegen. Einige drehten sich noch einmal um, winkten freundlich-wehmütig den Nachbarn zu, die am Straßenrand standen oder aus den Fenstern schauten, an diesem schönen schrecklichen Sommertag.
    Die Züge in die Vernichtung warten: Juden in Amsterdam

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