Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Zuid auf dem Weg zum Bahnhof
Auch auf dem Rasenstück vor dem Wolkenkratzer am Daniel Willinkplein sammelten sich die restlichen jüdischen Bewohner aus Amsterdam Zuid, ebenso am Olympiaplein mit seinen Sportanlagen, gleich hinter der breiten Apollolaan. »Es war schönes Wetter an diesem Tag, und auf den Plätzen ging der normale Sportbetrieb weiter. Es waren keine NSB ler, die da spielten. Es waren keine Widerstandskämpfer. Es war die Mehrheit des niederländischen Volkes. Man hatte sich an sehr vieles gewöhnen müssen.« Das schreibt der Amsterdamer Jude Abel Herzberg, der Bergen-Belsen überlebte, in seiner »Chronik der Judenverfolgung«.
Die Juden wurden im Laufe des Tages zur Schouwburg oder zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung am Adama van Scheltemaplein gefahren, dort registriert und an der Borneokade in die wartenden Züge, es sind Viehwagen, gestopft. Fast 5500 Juden sind am 20. Juni 1943 in Amsterdam aufgegriffen worden. Am Abend wurde noch einmal von deutschen Polizisten »Wohnung für Wohnung überholt«, wie der Polizeibericht über die Razzia an den Reichskommissar meldet. Amsterdam sollte endlich »judenfrei« sein. Weitere versteckte Juden wurden aufgespürt, »marschfertig gemacht und in der gleichen Nacht nach Westerbork verbracht«. 25 von den knapp 5500 Juden gelang in der Nacht während eines Luftalarms die Flucht. Alle anderen kamen im Laufe des Montags im Lager Westerbork an. Unter den Deportierten vom 20. Juni befinden sich Menschen, deren Stimmen in dieser Besatzungszeit schon zu hören waren:
Alida de Jong, Jahrgang 1885, die engagierte Gewerkschafterin und eine der wenigen sozialdemokratischen Frauen im Parlament in Den Haag und im Gemeinderat von Amsterdam, wurde zusammen mit ihrer Schwester Jeannette aus ihrer Wohnung im Marathonweg 39 geholt. Die beiden bleiben bis zum 6. Juli im Lager Westerbork. Dann müssen sie mit weiteren 2415 Juden in den Zug steigen. Als sie am 9. Juli im Vernichtungslager Sobibor ankommen, werden die Schwestern, wie alle anderen, in die Gaskammer getrieben. Ihr Bruder Godfried de Jong war mit seiner Frau Betsij und der dreizehnjährigen Tochter Jeannette einen Monat zuvor aus Amsterdam deportiert worden. Alle drei wurden am 4. Juni in Sobibor ermordet. Im Mai 1940 hatten sie mit ihrem Sohn Louis de Jong, Lieblingsneffe seiner Tante Alida, vom Hafen IJ muiden nach England fliehen wollen. Louis de Jong konnte sich mit seiner Frau auf das letzte Schiff retten, hatte aber die Eltern und die kleine Schwester in der Menge der Fliehenden an Land aus den Augen verloren. Während des Krieges war er in London Mitarbeiter von Radio Oranje. (Und wurde nach 1945 der wichtigste niederländische Historiker für die Zeit von Krieg und Besatzung.)
Adele und Wilhelm Halberstam lebten seit dem Frühjahr 1939 als deutsch-jüdische Emigranten in Amsterdam Zuid. Am 20. Juni hatte das Ehepaar keine Wahl und folgte dem Aufruf der Lautsprecher zum Transport nach Westerbork. Wilhelm Halberstam stirbt Anfang Oktober im Lager. Der Sohn Albert bleibt vorerst in Amsterdam, im September muss auch er nach Westerbork fahren. Adele Halberstams letztes Lebenszeichen sind einige wenige Zeilen vom 31. Oktober an Tochter und Schwiegersohn in Chile: »Ich funktioniere wie ein Automat, der Lebenszweck fehlt. In Liebe und Sehnsucht.« Sie wurde am 17. November zusammen mit 530 Juden aus dem Lager Westerbork in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet, Albert Halberstam am 31. März 1944.
Mirjam Levie hörte die Lautsprecher am frühen Morgen in ihrer Wohnung in der Pretoriusstraat. Sie versucht, durch die Sperren auf der Straße zu ihrer Mutter im Israelitischen Krankenhaus zu kommen. Doch ein »Grüner« packt sie und bringt sie ins Koloniaal Institut. Dort muss sie neben anderen Juden mit dem Gesicht zur Wand stehen, dreieinhalb Stunden lang. Ein Überfallwagen bringt die gelernte Dolmetscherin zur Sammelstelle am Polderweg. Mirjam Levie hat noch Hoffnung. Als dort Ferdinand aus der Fünten auftaucht, zeigt sie ihm ihre Papiere als Mitarbeiterin im Jüdischen Rat. Doch der SS -Führer sagt bloß: »Spielt keine Rolle« und »Es wird nur noch ausquartiert«. Über Westerbork kommt Mirjam Levie Anfang 1944 ins Lager Bergen-Belsen. Dort gehört die überzeugte Zionistin zu den wenigen Juden, die Anfang Juli 1944 im einzigen Austauschtransport quer durch Europa und die Türkei nach Palästina gebracht und so gerettet werden. (Dort trifft sie ihren Verlobten Leo Bolle, den
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