Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Adressaten ihrer Briefe, wieder und die beiden heiraten.)
Die umfangreichen Sperren am 20. Juni treffen auch etliche nichtjüdische Amsterdamer. Einem von ihnen, der mit Frau und Kind aufs Land zur Kirschenernte fahren möchte, gelingt es nach vielen Mühen, einen Bahnhof zu erreichen. In sein Tagebuch schreibt er: »Viele im Zug haben keine Ahnung, was sich in Amsterdam abspielt, die letzten Juden werden abgeholt. Zusammengetrieben und wie Vieh weggeführt. Erst nach Vught ( KZ in den Niederlanden) und dann weiter nach Polen deportiert. Ach, was müssen diese Menschen doch alles mitmachen … Auch wenn es kein angenehmes Volk ist. Aber es sind doch auch Menschen.«
Am 25. Juli schreibt aus Den Haag ein Vertreter des deutschen Auswärtigen Amtes an seine Berliner Zentrale und zitiert einen geheimen Bericht der deutschen Sicherheitspolizei: »Die Razzia in Amsterdam vom 20. Juni, die strikt geheim gehalten wurde, war ein großer Erfolg. Die niederländische Bevölkerung ist damit nicht einverstanden, aber tut nichts dagegen.« Die aus Amsterdam Deportierten bestiegen nach kurzem Aufenthalt in Westerbork schon wieder die Viehwagen, immer an einem Dienstag. Am 13. Juli schreibt Philip Mechanicus, Gefangener und Chronist im Lager: »Der Transport liegt wieder hinter uns. Westerbork hat diesmal über zweitausend Juden für den Osten preisgeben müssen.« Auf der Transportliste für diesen Tag stand auch Klaartje de Zwarte-Walvisch, die Anfang des Monats die überfüllte Schouwburg Richtung Westerbork hatte verlassen müssen. Zu diesem Zeitpunkt endet auch ihr Tagebuch. Zusammen mit 1988 Frauen und Männern, Kindern und Kranken – wir wissen es heute genauer als der Augenzeuge Mechanicus – ist die Zweiunddreißigjährige am 16. Juli in Sobibor angekommen; niemand überlebte. Ihr Mann Joseph wurde später deportiert und starb im März 1944 »irgendwo in Polen«.
Am 25. Juli, abends, erlebt Amsterdam Noord den zweiten von drei Luftangriffen auf die Fokker-Flugzeugwerke. Der Betrieb ist längst Teil der deutschen Kriegsindustrie, und beliefert die deutsche Luftwaffe mit Nachschub. Am 28. Juli folgt der dritte Luftangriff der Westmächte auf die Fokker-Werke innerhalb von zehn Tagen. Wegen tief hängender Wolken und Abstimmungsproblemen der Piloten werden die Fabriken nur einmal getroffen, aber um so mehr Wohnhäuser im Umkreis. Durch die missglückte Aktion sterben über 200 Menschen, viele Gebäude werden zerstört. Auch wenn die Amsterdamer die angepeilte Zerstörung von Fokker einsehen: Dass so viele Menschen sinnlos sterben müssen, zermürbt und fördert die Resignation. Wieder sind es die Schlagersänger mit ihren Liedern, die versuchen, die düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen.
Der Schallplatten-Hit des Sommers 1943 – »’t komt wel weer in orde« – »Es wird schon alles wieder gut« – hat einen Nerv getroffen. Zu den Rhythmen der Big Band von Dick Willebrandts singt der beliebte Jan de Vries: »Wir wollen nicht meckern, alles hat ein Ende. / Lass Dich nicht hängen, / sei ein ganzer Kerl. / Es wird schon alles wieder gut …« Dass die Ratschläge höchst banal sind, macht nichts: »Lass das Licht nicht brennen / und sei sparsam mit dem Gas.« Denn dann folgen die Zeilen voller Optimismus, die die Amsterdamer hören wollen: »Lamentiere nicht länger, / wie es früher war, / Denn es wird schon alles wieder gut. / Mach’s wie ich und kümmer Dich um nichts.«
Das Orchester orientiert sich am Glenn-Miller-Sound, und Dick Willebrandts, ein anerkannter Jazz-Pianist, spielt voller Swing das Solo am Klavier. Erstaunlich, denn das ist »negroide« Musik, verpönt und verboten. Die musikalische Freiheit hat einen Preis: Ab August 1943 macht das Orchester Dick Willebrandts Propaganda-Aufnahmen für den Deutschen Europa-Sender: Jazz vom Feinsten, denn es sollen über den Äther US -Boys und englische Soldaten gewonnen beziehungsweise kampfunwillig gemacht werden.
Es ist der gleiche Sommer, in dem die Direktorin der Kinderkrippe, die jungen Pflegerinnen, der Leiter der benachbarten Reformierten-Schule und die »Kinderschmuggler« alles versuchen, um so viele jüdische Kinder wie möglich aus den Händen der Mörder zu retten. Walter Süskind, der Organisator im Hintergrund, nutzt weiterhin skrupellos seine Kontakte mit den Deutschen, um die Transportlisten zu fälschen. Alle, die auf diese Weise den Besatzern Widerstand leisten, wissen: Es bleibt nicht mehr viel Zeit.
Henriette Pimentel sorgt dafür,
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