Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
dass ihre Mitarbeiterinnen bei diesem permanenten Kraftakt für »ihre Kinder« auch ein wenig an sich selber denken. Von ihrer Chefin ermutigt, schreibt die Pflegerin Sieny Kattenburg an ihre Eltern, die am 20. Mai mit der jüngeren Tochter ins Lager Westerbork deportiert worden sind, und bittet um die Zustimmung zur Heirat. Die Neunzehnjährige und der dreiundzwanzigjährige Harry Cohen, der für den Jüdischen Rat Kurierdienste machte, sind seit Monaten ein Paar. Seit Harry Cohen am 20. Juli erlebte, wie sein Bruder bei der großen Razzia mit Frau und Kind aus Amsterdam nach Westerbork transportiert wurde, ist er mit Wissen der Direktorin in der weiträumigen Crèche untergetaucht. Und sie drängt beide zur Heirat, weil die Chancen, untertauchen zu können, wesentlich besser wären.
Jeden Tag ging Harry Cohen zum jüdischen Einwohnermeldeamt in der Weesperstraat, wohin Sienys Vater seine Zustimmung schicken sollte. Am 28. Juni um 9 Uhr 30 ist sie da, und sofort fragt der Bräutigam in spe: »Wann können wir heiraten?« Das sei abhängig von der Klasse, in der man heiratet – erste, zweite oder dritte. Heute sei die zweite Klasse an der Reihe, antwortet der Mitarbeiter. Kostenpunkt: 12,50 Gulden und bitte um zehn Uhr mit zwei Zeugen antreten. Im Geschwindschritt zurück zur Krippe: »Um zehn Uhr heiraten wir.« Keine Zeit, die festlichen Kleider zu besorgen, die bei Freunden verstaut sind. Als Trauzeugin kommt auch die Direktorin mit aufs jüdische Standesamt. Anschließend wollte Harry Cohen sofort mit seiner Frau untertauchen, aber sie weigerte sich: »Ich will die Kinder nicht im Stich lassen.«
Gleiches gilt für Henriette Pimentel, 67 Jahre alt, die längst in den Ruhestand hätte gehen können. Doch nach der deutschen Besatzung galt ihr ganzer Einsatz dem »Kinderhaus«, das sie seit 1926 leitete. Die illegalen Aktionen zur Rettung der Kinder wurden nicht zuletzt dank ihrer Autorität, Umsicht und Verlässlichkeit möglich. Vier Wochen nach der Heirat, am 26. Juli, standen unerwartet Überfallwagen der deutschen Polizei vor der Türe. Die meisten Pflegerinnen, auch die Direktorin, und natürlich die Kinder mussten mitkommen. Es ging ins Lager Westerbork.
Die Deutschen entschieden, dass sie die Krippe noch brauchen würden. Sieny Cohen-Kattenburg und ihre Kollegin, die zehn Jahre ältere Virrie Cohen, Tochter des Vorsitzenden vom Jüdischen Rat, hatten jetzt die Verantwortung für die jüdischen Kinder, die schon nach wenigen Tagen wieder die Räume füllten. Die Kolonne Henneicke war mit ihrer Jagd auf untergetauchte Juden noch nicht am Ende. Die deutsche Polizei spürte auf ihren Streifzügen durch Amsterdam weiterhin jüdische Familien mit Kindern auf und brachte sie in die Schouwburg in der Plantage Middenlaan. Aber auch die heimliche und gefährliche Arbeit der »Kinder-Schmuggler« ging weiter.
Aus Westerbork kamen ermutigende Briefe von Henriette Pimentel, die ihren Hund Brunie mit ins Lager hatte nehmen dürfen. Die alte Direktorin machte Pläne für die Crèche in der Nachkriegszeit. Ab Mitte September blieben die Briefe aus, und als Brunie eines Tages verloren durch die Baracken lief, wussten die Menschen im Lager Westerbork, die die kleine energische Dame kannten, dass auch sie im Viehwaggon in Richtung Osten deportiert worden war. Am 17. September 1943 wurde Henriette Pimentel in Auschwitz-Birkenau vergast.
In Amsterdam sind auch im August die Razzien und der Transport von Juden nach Westerbork weitergegangen. Die Deutschen haben es auf die letzten Kranken im Niederländisch-Israelitischen Krankenhaus ( NIZ ) abgesehen. Philip Mechanicus notiert am 15. August in Westerbork: »Gestern abend Transport von knapp vierhundert Mann aus Amsterdam angekommen. Ein großes Kontingent Kranker aus dem NIZ . Armselige alte Männlein, fast ohne Gepäck. Abscheu und Mitleid.« Doch es sind nicht nur die Juden, die von den Besatzern systematisch gejagt werden.
Am 1. August, ein Sonntag, waren die Tribünen im Olympiastadion dicht besetzt. Die niederländischen Radrennfahrer trugen ihre Nationale Meisterschaft aus. Am nächsten Tag rollte die deutsche Sicherheitspolizei, unbemerkt von der Öffentlichkeit, die Widerstandsgruppe CS -6 auf und stürmte deren Hauptquartier, das Haus der Familie Boissevain in der Corellistraat 6.
Im Februar 1943 hatten drei politische Attentate der CS -6 auf hohe niederländische Beamte, »Verräter«, die mit den Deutschen kooperierten, Aufsehen erregt. Wenig später
Weitere Kostenlose Bücher