Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
zum Widerstand gegen die Besatzer, ließ die Menschen am Ende sich abwenden. Die Deportationen betrafen eben nur rund zehn Prozent in der Hauptstadt, und gerade mal ein Prozent der Bevölkerung insgesamt. Doch mit den Erlassen Anfang Mai gegen Studenten und männliche Arbeitskräfte ist fast jede Familie im Land betroffen. Wegsehen geht nicht mehr. Die Alternative heißt: mitmachen oder untertauchen und mit schwerer Bestrafung rechnen.
16. Mai – In den Kirchen der Niederlande wird ein flammender Protest gegen den geforderten Arbeitsdienst verlesen. Es sei »ungeheuerlich«, dass ein Volk, das den Krieg nicht gewollt habe, gezwungen werde, für den Feind zu arbeiten, »um Deutschland den Sieg zu sichern«. Auch der Kampf gegen den Bolschewismus sei keine Rechtfertigung für diese Zwangsmaßnahme.
Flugblätter erscheinen in Amsterdams Straßen: »Mitbürger! Der Standpunkt der zusammen arbeitenden illegalen Gruppen ist Euch bekannt: NICHT MELDEN !« Niemand solle sich von der deutschen Propaganda verführen lassen: in Deutschland warte ein erbärmliches Leben in Arbeitslagern. Es ist ein Aufruf zum Widerstand, der jedoch keine falschen Hoffnungen wecken will: »Verliert den Mut nicht. Haltet zusammen! Die schwersten Monate stehen uns noch bevor. Aber es wird ein Ende geben. Bleibt hier!« Und am Rand des Flugblattes: » WIDERSTAND . WIDERSTAND . WIDERSTAND .«
Die Studenten: Von den 9000, die bisher nicht unterzeichnet haben, melden sich rund 3000 zum Arbeitseinsatz in Deutschland.
Die Berufstätigen: Von den angepeilten 170 000 Männern sind gerade einmal 54 000 bereit, in Deutschland zu arbeiten. Tausende tauchen unter. Ärzte stellen falsche Krankmeldungen aus, Mitarbeiter in den Arbeitsämtern fälschen Unterlagen. Polizisten sabotieren unauffällig die Befehle, Männer für den Arbeitsdienst aufzuspüren.
Die ehemaligen Soldaten: Exakte Zahlen gibt es nicht, aber auch von ihnen versuchen Tausende, sich dem Arbeitsdienst zu entziehen. Sie tauchen unter, verschaffen sich gefälschte Unterlagen oder Ausweise.
Mitte Juni 1943 sind in den Niederlanden rund 60 000 Menschen untergetaucht – auf dem Land vor allem, aber auch in den Städten. Um sie alle heimlich zu versorgen, aber auch ihre Familien, bei denen sie als Ernährer ausfallen, müssen in kürzester Zeit die kleinen, schon bestehenden illegalen Netzwerke ausgebaut werden. Bankier Walraven – Wally – van Hall ist der motivierende Kopf, der als Verbindungsmann unter dem Decknamen »van Tuyl« unermüdlich durchs Land reist, engere Kontakte zwischen den Widerstandsgruppen knüpft und neue Strukturen organisiert. Der charismatische Siebenunddreißigjährige ermutigt die alten Mitstreiter, gewinnt neue und bringt Geld in die Widerstandskassen. Van Hall überzeugt seine Mitstreiter beim »Seemanns-Unterstützungsfonds«, nun auch den untergetauchten »Landratten« und ihren Familien zu helfen. Im Sommer 1943 führt alle Zusammenarbeit zur Gründung der illegalen »Nationalen Hilfe für Untergetauchte« ( LO ).
Am 13. Mai hatte SS -Führer Rauter ein Radio-Verbot für die Niederlande erlassen: Bis zum Monatsende mussten alle Geräte beim Postamt oder der nächsten Polizeiwache abgegeben werden. Wer nicht ablieferte, den erwartete eine unbegrenzte Geldstrafe oder fünf Jahre Gefängnis. Ausgenommen vom Verbot waren alle deutschen Instanzen, NS -Organisationen, Mitglieder der NSB und auch, wer ein Drahtfunkgerät ohne Kurz- und Langwelle besaß und nur das nationalsozialistische Programm empfangen konnte. Dass der »Nationale Rundfunk« damit den größten Teil seiner Hörer und außerdem die Gebühren verlor, war beim Abwägen für die Besatzer das kleinere Übel. Es ging darum, die feindlichen Sender auszuschalten, vor allem BBC und Radio Oranje aus London. Außerdem befürchtete die Wehrmacht, dass bei einer Invasion die Anti-Hitler-Koalition durch das Radio Einfluss auf die Bevölkerung nehmen könnte.
Das neue Verbot führte zu fantasievollen Aktivitäten. Radiogeräte verschwanden in Kaninchen- und Hühnerställen, unter Kohlen und Kartoffeln im Keller, auf Dachböden, in Schornsteinen und wasserdichten Behältern im Garten. Die Zahlen sprechen für sich: Registriert waren rund 1 160 000 Radios im ganzen Land, abgeliefert wurden bis Mitte Juli etwa 735 000, darunter auffallend viele alte Geräte.
Auch im Mai standen die Amsterdamer vor den Kinos Schlange, von der illegalen Zeitung Trouw heftig, aber vergeblich, kritisiert.
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