Leben mit Hochsensibilitaet
Süchten. Sich zu betäuben oder zu berauschen, erscheint manchem Hochsensiblen als gutes Mittel, um weniger „überempfindlich“ zu sein. Sylvia habe ich schon vorgestellt. Sie wollte in der Pubertät am liebsten gar nichts mehr fühlen. Auf der Suche nach entsprechenden Möglichkeiten landete sie bei den Drogen. Die Drogen waren für Sylvia ein warmer Mantel, der sie gegen den Schmerz des Fühlens schützte. Zusammen mit anderen Drogennutzern erschuf sie sich eine „heile Welt“, die die harte Außenwelt ausschloss. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie tagelang mit einer ganzen Gruppe Drogensüchtiger in Wohnzimmern saß und sie sich betäubt und berauscht gegenseitig vormachten, dies sei das wahre Leben. Sie glaubten, ihr Leben außerhalb der Gesellschaft verbringen zu können. „Wir waren abgestumpft, uns war alles egal. Doch wir fühlten Verbrüderung untereinander. Wir gegen den Rest der Welt. Die Außenwelt erschien uns hart, lieblos und kalt.“ Für Sylvia waren die Drogen anfangs ein Wundermittel.Sie verlor ihre starke Gehemmtheit, von der sie sich so behindert fühlte. Mit Hilfe der Drogen sah sie sich fähig, in der Öffentlichkeit aufzutreten, und war nicht mehr so extrem darauf fixiert, wie sie auf andere Menschen wirken würde. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei. Heute weiß sie: Sie fühlte sich befreit von ihrer Hochsensibilität.
Bei der Entziehungskur kamen all die Gefühle in verstärkter Form wieder zurück. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei den anderen Drogenabhängigen, die versuchten, clean zu werden. Frühere Verliebtheiten wurden wieder gefühlt, was gleichzeitig die üblichen Komplikationen mit sich brachte. Auch andere Emotionen wie Angst und Wut kamen mit Vehemenz zurück. Die ehemaligen Drogenabhängigen fühlten wieder jenen Schmerz und Kummer, vor dem sie in die Drogen geflüchtet waren. Glücklicherweise hatte Sylvia eine gute Betreuung und fand die Kraft und das Durchhaltevermögen, um diese stürmische Periode durchzustehen. Danach musste sie Wege finden, um mit ihrer Hochsensibilität leben zu lernen. Heute, drei Jahre später, sieht sie in ihrer Sensibilität eine Gabe und eine Eigenschaft, die ihr auch viel zu bieten hat.
Noch einmal zur Eigenschaft der Hochsensibilität: Ein Hochsensibler erlebt die Dinge, die in ihm selbst und außerhalb von ihm geschehen, tief und intensiv. Sein Geist (oder Bewusstsein) – das heißt, der Persönlichkeitsteil, der ihn wissen lässt, wer, was und wo er ist – arbeitet äußerst eifrig; er reagiert meistens auf alle Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Erinnerungen, die im Lauf des Tages auftauchen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass er auch auf sich selbst reagiert. Das gilt für jeden, doch vielleicht für Hochsensible besonders. Völlig selbständig, ohne bewusste Steuerung, kann der Geist auf Reaktionen reagieren, die wiederum Reaktionen auf andere Reaktionen sind. Er kann dadurch unkontrollierbar werden – ähnlich einem Pferd, das durchgeht. Dann sind die Gedanken das Echo anderer Gedanken. Dann halten dich – lange, bevor es dir selbst klar wird – ungesteuerte Wahrnehmungen, Kommentare auf Wahrnehmungen, Kommentare zu Kommentaren … auf Trab.
Kennst du das? Es passiert vor allem, wenn du gewissermaßen neben dir stehst. Wenn du ein wenig oder auch etwas mehr Stress hast. In solchen Momenten verlierst du eher die Kontrolle über dich und deine Gedanken. Manchmal erscheint es dir dann, als hättest du grandiose Ideen; zumeist sind es jedoch Sorgen, die dich übermäßig in Beschlag nehmen. Dann wirst du vielleicht vor allem nachts davon beunruhigt und liegst wach. Mir persönlich passiert es, wenn ich zu wenig gegessen habe. Hochsensible können viel stärker als andere vom Denken in Beschlag genommen werden. Das kann kreativ und nützlich sein. Vielfach jedoch sind es nutzlose Grübeleien. Für Hochsensible ist es hilfreich, zu lernen, eigentliche Gedanken vom „Hintergrundrauschen“ zu unterscheiden. Das wird möglich, wenn du im Inneren leer und still wirst. Vermutlich weißt du schon, wie wichtig Leere und Stille für dich sind. Doch wie kommt man dahin? Eine gute, uralte Methode ist Meditation.
2.10 Meditieren: vom Denken und Wollen zum Sein
Wenn man in einer Meditation versucht, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, merkt man schnell, dass das gar nicht so einfach ist. Hat man es dann geschafft, einmal das Entstehen der eigenen Gedanken als Zuschauer wahrzunehmen, entdeckt man: Denken ist in der
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