Leben mit Hochsensibilitaet
meine Aufmerksamkeit, ohne zu urteilen, dort verweilen ließ.“ Was ihn früher sicher einige Tage Seelenschmerz gekostet hätte, verfloss nun im Zeitraum einiger Minuten. „Danach konnte ich sogar lachen, und ich konnte auch meine Freundin daran teilhaben lassen.“
Das Beispiel von Ramon zeigt, dass man als Hochsensibler über die Empfindungen staunen kann, die man im Körper spürt. Indem man wie Ramon seinen Körper als Landkarte nutzt, kann man Emotionen, die Schwierigkeiten verursachen, ergründen. Manchmal ist die Erklärung verblüffend einfach. Rose zum Beispiel fand heraus, dass bestimmte starke Emotionen, die sie häufig hatte, einfach hormonell erklärbar waren und mit dem prämenstruellen Syndrom zusammenhingen. Sie bemerkte, dass ein deutliches Prickeln in ihrem Kopf jeden Monat die Ausschüttung von Hormonen anzeigte. Diese lösten nicht nur die Monatsblutung aus, sondern brachten auch ihr emotionales System aus dem Gleichgewicht und hatten somit starken Einfluss auf ihre Stimmungen. Auf vergleichbare Art begann sie auch andere starke Emotionen zu beobachten. Sie merkte, dass sie einige ihrer Reaktionen körperlich erklären konnte. Das half ihr, die Kontrolle darüber zu erlangen. Indem sie beispielsweisebesser auf ihre Nahrung achtete, wurde sie ruhiger und emotional stabiler.
Ein Teil der Kontrolle besteht darin, zu erkennen, dass eine Welle in einem aufsteigt, über die man keine Kontrolle hat. Diese Welle kann man von der eigenen Person loskoppeln: Ich bin nicht diese Welle. Sie überflutet mich – doch ich bin sie nicht. Die Emotion spielt mit dir wie der Wind mit deinen Haaren. Versuche zu lokalisieren, wo genau du die Emotion fühlst. Ist es im Magen, im Herzen oder im Kopf? Und was genau fühlst du? Bleib nicht an der Emotion haften, sondern betrachte sie, wie ein Chirurg eine offene Wunde betrachtet. Noch einmal: Du bist nicht die Emotion, du bist viel mehr als das. Du bist auch das, was dir selbst zuschaut. Erkenne, dass du vielerlei Gedanken hast, die dir im Moment allerdings nicht besonders helfen. Es sind unkontrollierte Assoziationen; dein Hirn, auch ein Teil von dir, aber nicht du selbst, findet es herrlich, allen möglichen Gedanken hinterherzurasen. Momentan nützt dir das nichts. Nimm die Gedanken nicht ernst. Wenn es wichtige Gedanken sind, werden sie dich nicht im Stich lassen und zu einem Moment, an dem du wieder ruhig und ganz du selbst bist, aufs Neue aufkommen.
Weil wir in einer stark durch das Denken geprägten Welt leben, betrachten es manche Menschen schon als etwas Besonderes, überhaupt fähig zu sein, Gefühle zu empfinden. Dadurch werden Gefühle manchmal überschätzt. Es ist keineswegs so, dass man permanent von einem Gefühl ins nächste fällt. Es gibt durchaus hochsensible Menschen ohne starke Stimmungsschwankungen. Stimmungsschwankungen sind – wie Schüchternheit und Angst – eine mögliche Folge von Hochsensibilität, jedoch kein integraler Bestandteil davon. Gleichmut, wie ihn der Dalai Lama als höchstes Seins-Stadium lehrt, kann jeder erreichen, auch ein Hochsensibler. Es erfordert Übung und etwas Geduld – gleichwohl, die Mühe lohnt sich.
Es gibt noch eine andere Seite: Man kann viele Gründe finden, um lieber nicht zu fühlen. Indem man alles mit seinem Verstandangeht, kann man Gefühle außen vor halten. Manche Hochsensiblen haben gelernt, Gefühle nicht zu spüren. Sie haben sich abgehärtet, weil sie selbst fanden oder von anderen zu hören bekamen, sie seien „überempfindlich“. Nicht-Fühlen hat in bestimmten Lebenssituationen vielleicht geholfen. Doch die Entscheidung, nicht zu fühlen, beinhaltet auch, dass man die schönen Seiten des Lebens nicht fühlt, wie zum Beispiel Nähe, Kontakt und Liebe. Unsere Ratio ist nützlich, weil sie Einsicht verleiht – sicherlich auch für Hochsensible, denn sie werden vielleicht ab und zu durch überwältigende Emotionen mitgerissen. Dann sind ruhige Gelassenheit und Überlegung sehr nützlich. Doch prinzipiell das Fühlen auszuschließen, ist meist eine fragwürdige Strategie, die zum Beispiel aus Angst entsteht. In einer Person, die wirklich im Gleichgewicht ist, ist Raum für alle Regungen – auf spirituellem, emotionalem, rationalem und körperlichem Gebiet.
Manche Menschen haben derartige Angst vor ihren eigenen Gefühlen, dass sie ihren Körper für jedes Gefühl bestrafen. Zuweilen bezieht sich das auch nur auf einen einzigen Bereich, zum Beispiel bei Menschen mit Essstörungen oder
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