Leben mit Hochsensibilitaet
Bedürfnis möchte ich auch in meiner Arbeit anwenden. Andernfalls frisst die Arbeit mich früher oder später auf.“
Als ich mit Sophie redete, bemerkte ich ihre Kämpfernatur. Helle, intelligente Augen, ein selbstbewusster Blick, ein unabhängiger Geist. Sie lacht viel: „Mein Freund ist von mir begeistert. Er ist immer neugierig auf meine Meinungen zu allen möglichen Sachverhalten. Ich folge meistens meinem Herzen und denke nicht darüber nach, ob Dinge sozial erwünscht sind.“ Sophie wusste immer sehr gut, was sie wollte. Obwohl ihre Eltern es nicht unterstützten, schrieb sie sich für ein Studium der Sozialpädagogik ein. Sie arbeitete nebenbei, um das nötige Geld zu verdienen. Mit 19 war sie finanziell unabhängig. In ihrer Ausbildung lernte sie viel über soziale Prozesse, Familienstrukturen, Pädagogik und Psychologie. Langsam wurde ihr klar, dass sie selbst keine sanfte Kindheit hinter sich hatte. „Mitstudenten waren häufig schockiert, wenn ich erzählte, wie es bei uns zu Hause zuging. Ich sollte ein starkes Mädchen werden und nicht jammern.“ Scheinbar unberührt berichtet Sophie von den Hänseleien durch ihren Vater und ihren Bruder und der herzlosen Erziehung, die sie erhielt. Sie wurde häufig ausgeschimpft. Sie sollte ja vor allem ein starkes Mädchen werden und nicht jammern.
Sophie hatte das alles über sich ergehen lassen – scheinbar unberührt. Bis sie plötzlich einbrach. Nächtelang konnte sie nicht mehr schlafen. Sie bekam starke Panikanfälle. Ihr ganzer Organismus geriet durcheinander. Überall schmerzte es. Vor allem in ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Monatelang hörte sie enormes Geknatter – was sie noch am ehesten mit Kurzschlüssen vergleichen konnte. Sie war vollständig überreizt. Ihre Arbeit war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Die Ärzte begriffen nicht so recht, was mit ihr los war. Ein Verdacht auf Epilepsie kam auf; doch lediglich eine erhöhte vegetative Nervenaktivität konnte entdeckt werden. Medikamente hatten einen entgegengesetzten Effekt. Von Prozac – von ihrem Psychiater verschrieben, um ihre Depressionen zu bekämpfen – wurde sie nur noch kränker. Auch dieser Arzt erhöhte die Dosis, mit negativen Folgen. Schließlich konnte Sophie sogar den Blick auf die Strukturen von Bodenfliesen nicht mehr ertragen – nur noch leere weiße Wände vermochte sie anzuschauen.
Zurückblickend auf diesen Alptraum sagt sie: „Ich weiß jetzt, dass ich extrem sensibel bin und extrem unsensibel aufgezogen wurde. Die Arbeit, die ich machte, hat mich noch weiter von meinen Bedürfnissen entfernt. Ich habe immer weiter gemacht, mit der Folge, dass es zu dieser inneren Explosion kam. Seit ich weiß, dass es Hochsensibilität gibt, weiß ich, dass ich weder verrückt noch epileptisch bin. Ich muss ganz sorgfältig auf meinen Körper hören, auf die Grenzen, die er mir angibt, und die Bedürfnisse, die er hat. Authentisch kann ich nur in Übereinstimmung mit mir selbst leben. Einen anderen Weg gibt es für mich nicht. Für alle Dinge habe ich durchschnittlich mehr Zeit und mehr Ruhe nötig. Viele Situationen führen bei mir zur Überreizung. Ich bin jetzt schon aufmerksam, bevor ich die ersten derartigen Signale auffange.“
Inzwischen hat Sophie wieder angefangen zu arbeiten. Als Quereinsteigerin unterrichtet sie jetzt in einer Schule. Mit Hilfe von Kleinigkeiten sorgt sie dafür, dass sie die nötige Ruhe bekommt. Im Klassenzimmer hängen nur wenige Dinge an der Wand. „Ich merke, dass auch die Kinder so ein leeres Klassenzimmer beruhigend finden.“ Weiterhin geht Sophie, soviel sie kann, in der Natur spazieren, praktiziert regelmäßig Yoga und genießt die kleinen Dinge des Lebens.
Ramon kennen wir schon aus dem letzten Kapitel. Er ist sehr sensibel und hat ab und zu Schwierigkeiten, gut mit Gefühlen umzugehen, die plötzlich in ihm hochkommen. Außerdem leidet er unter Erschöpfung – manchmal so stark, dass seine Arbeitsstelle (eine Gärtnerei) ihn wieder nach Hause schickt. In einer dieser Perioden des Zwangsaufenthalts zu Hause beschloss er, einen Kurs über Hochsensibilität mitzumachen. In Gesprächen beschreibt er die Art und Weise seiner Erschöpfung. „Ermüdung ist ein Signal meines Körpers. Es ist kein Zeichen von Schwäche, im Gegenteil, mein Körper hat seine eigene Weisheit, um mir klarzumachen, was wirklich los ist. Je mehr Kontakt ich zu meiner Erschöpfung aufnehme, desto mehr sehe ich ein, sie hängt damit
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