Leben mit Hochsensibilitaet
begriff insbesondere: Mein Hang zu Tätigkeiten, die mir die größtmögliche Freiheit gaben, spiegelte ein essentielles Bedürfnis. Weil ich ein gesundes Verantwortungsgefühl hatte und über Disziplin verfügte, hatte ich keine Probleme damit, selbständig zu arbeiten. Gleichwohl fand ich mein eigenes Verhalten sehr merkwürdig und begriff lange Zeit nicht, warum ich nicht so wie die meisten anderen Menschen funktionieren konnte. Ich nahm es mir übel, nicht so zu sein wie die anderen, mehr Ruhe und Pausen nötig zu haben.
In unserer Kultur wird großer Wert auf die Arbeit gelegt. Unsere Arbeit gibt uns nicht nur unser Einkommen, es ist auch ein Prestigeobjekt. In lockeren Gesprächsrunden kommt man fast immer aufden Beruf zu sprechen. Ohne einen interessanten Beruf ist man weniger interessant. Und spätestens seit der feministischen Welle erwarten wir auch von Frauen, dass sie auf beruflicher Ebene beeindrucken. Im Allgemeinen gilt – für Männer wie für Frauen: Der Beruf sollte nicht nur Geld bringen, sondern auch spannend und herausfordernd sein. Er soll uns zudem helfen, uns weiterzuentwickeln, und er soll uns ein gutes Ansehen verschaffen. Es gibt nur wenige Menschen, die bewusst eine ruhige und eintönige Arbeit auswählen. An Hochsensible werden dieselben Erwartungen wie an andere gestellt – und meistens stellen sie genau diese Erwartungen auch an sich selbst.
Viele der Hochsensiblen, mit denen ich sprach, haben am eigenen Leib erfahren, dass die Arbeit, der sie nachgingen, sie früher oder später zerriss. Der eine bekam Burn-out, der andere fiel durch Depressionen aus dem Arbeitsleben und der nächste konnte mit dem Arbeiten noch nicht einmal anfangen. Manche laufen völlig neben sich her und entwickeln Krankheiten wie chronische Erschöpfung oder Fibromyalgie oder haben andere (unerklärliche) körperliche Beschwerden.
3.3.2 Marion, Anke, Sophie und Ramon
Marion (41) hatte es nicht leicht. Als alleinerziehende Mutter lag auf ihren Schultern die Verantwortung für ihr eigenes finanzielles und emotionales Wohl und für das ihrer Tochter. Aufgrund ihres mitfühlenden Wesens half sie obendrein noch bedürftigen Menschen in ihrer Umgebung. So hatte sie neben ihrer Aufgabe als Mutter verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten übernommen bei Senioren, bedürftigen Familien und Blinden. Trotz alledem fühlte sie sich nicht vollwertig. Sie wünschte sich Anerkennung in Form eines Hochschuldiploms. Deshalb begann sie zusätzlich mit dem Studium der Sozialpädagogik.
Das erste Studienjahr schaffte sie so gerade. Danach riet ihr ihre Schwester jedoch dringend davon ab, auf diese Art weiterzumachen. Sie bemerkte bei Marion allerlei beunruhigende Symptome. Marionselbst spürte, dass ihr das alles über den Kopf wuchs. Sie unterbrach das Studium und erholte sich etwas. Doch nach einiger Zeit fühlte sie sich wieder so fit, dass sie sich zum Studium zurückmeldete. Sie machte ein Praktikum an einer Schule für lernbehinderte Kinder – und ab da ging es schnell bergab mit ihr. Die Spannungen in ihrem Kopf wurden zunehmend schlimmer. Der Druck war einfach zu groß. Ihre Sensibilität bekam wenig oder gar keinen Raum. Sie wollte so gerne für die anderen da sein, aber sie konnte sich nicht ausreichend abgrenzen. Ihre Kopfschmerzen wurden stärker und stärker, doch sie weigerte sich, darauf zu achten. Eine Stimme in ihr flüsterte: „Ich sehe schon das Ufer, an dem das Schiff stranden wird.“ Es war, als wisse sie in ihrem Herzen, dass es nicht gut gehen werde.
An einem Februarmorgen zerriss etwas in ihr. Sie stürzte und bekam einen regelrechten Blackout. Der Schulleiter schickte sie für eine Woche nach Hause. Zu Hause geriet sie dann gänzlich durcheinander. Sie musste mit psychotischen Wahnideen kämpfen. Doch sie weigerte sich immer noch, den Ernst der Situation einzusehen. Sie glaubte, das Problem selbst lösen zu können, und weigerte sich, die Beruhigungsmittel einzunehmen, die ihr der Arzt verschrieben hatte. Im folgenden Monat erlebte sie noch einmal einen starken Rückschlag. Es dauerte drei Monate, bis sie wirklich erkannte, dass sie ernsthaft überspannt war.
Die Bekanntschaft mit dem Konzept Hochsensibilität half Marion, wieder auf die Beine zu kommen. „Es ist die Hochsensibilität, die mich sozusagen neckt und mir gleichzeitig Signale gibt, dass ich meine Grenzen überschreite.“ Heute, vier Jahre später, fängt sie an zu erkennen, wie verletzlich ihr eigenes Wesen ist, und sie entdeckt
Weitere Kostenlose Bücher